100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Im Geiste Luthers

Nicht nur die Sozialisten halten ihre Tagungen ab, sondern auch die Evangelische Kirche in Thüringen veranstaltet ihren wegweisenden, ersten Landeskirchentag. In zwölftägiger Arbeit wurde die Verfassung der vereinigten Landeskirche ausgearbeitet.

Lutherrose

Der Thüringer Landeskirchentag zu Jena.

Ein Rückblick.

Von Archidiakonus Kirchner, Saalfeld.

Jena, 16. Okt.

epm. Mit Spannung hat man in weiten Kreisen dem Landeskirchentag der Thüringer evangelischen Kirche entgegengesehen, dessen diesjährige Tagung soeben ihren Abschluss gefunden hat.

Man kann nicht sagen, dass das neuerstandene „Land Thüringen” mit seinem dauernden Misslingen irgendeiner Regierungsbildung einen erhebenden Eindruck innerer Geschlossenheit gemacht hätte, und man versteht es, wenn man sich gefragt hat, ob in kirchlicher Hinsicht es nach solchen Vorgängen auf politischem Gebiet gelingen werde, ein festes Gefüge von starker Struktur zu bilden. Es kommt hinzu, dass die Unterschiede der kirchlichen Gruppen, die, wie anderswo, so auch in Thüringen vorhanden sind, besonders leicht eine Verschärfung bereits bestehender Neigungen zur Zersplitterung mit sich bringen; hatte doch kurz vor dem Zusammentritt des Landeskirchentages die Synode von Reuß ä. L. den Anschluss an die Thüringer evangelische Kirche abgelehnt!

Wer mit Befürchtungen solcher Art der Tagung entgegensah, hat eine erfreuliche Enttäuschung erlebt. Was man vor 10 Jahren schlechthin für eine Unmöglichkeit angesehen hätte, ist Tatsache geworden: Die Thüringer evangelischen Kirche ist Wirklichkeit. Die evangelische Landeskirchen von Weimar, Meiningen, Altenburg, Gotha, Schwarzburg-Sondershausen, Reuß j. L. und (nach den in Jena abgegebenen Erklärungen seiner Kirchenregierung) in Kürze auch Schwarzburg-Rudolstadt sind zu einer lebensvollen Einheit zusammengeschlossen.

Die wichtigsten Stücke der Verfassung sind genehmigt und treten am 1. Januar 1921 in Kraft. Ihr Aufbau ist großzügig. Aus dem Kirchenvolk gehen die Vertretungen der Kirchgemeinde, des Kreises (Kreiskirchentag), der Gesamtkirche (Landeskirchentag) und schließlich aus dem Landeskirchentag die oberste Behörde, der Landeskirchenrat, hervor, wobei für Kreiskirchentag und Landeskirchentag die Urwahlen, Vorschlägen des Dresdener Kirchentages entsprechend, in glücklicher Weise durch Vertreter einiger Fachvereinigungen ergänzt werden, deren Dienste für die Thüringer evangelische Kirche besondere Bedeutung besitzen.

Schonende Uebergangsbestimmungen regeln die allmähliche Einfügung der bisherigen Landeskirchen in den Gesamtorganismus der neuen Thüringer evangelischen Kirche. Bis zum 31. Dezember 1932 sind die ersten Geistlichen der Landeskirchen, die nicht durch ein geistliches Mitglied im engeren Landeskirchenrat vertreten sind, zu allen wichtigeren Entschließungen des Landeskirchenrates hinzuzuziehen. Die vorhandenen Superintendenturbezirke (Ephorien, Diözesen) werden bis zum 31. Dezember 1926 als Kirchenkreise beibehalten.

Während in der Politik eine Regierungsbildung für das Land Thüringen nicht hat gelingen wollen, ist es der Thüringer evangelischen Kirche möglich gewesen, die Persönlichkeiten für eine von dem Vertrauen der sämtlichen drei Gruppen der Synode getragene Kirchenregierung, den Landeskirchenrat, zu finden, der vom 1. Januar nächsten Jahres an seines Amtes waltet. Konnte trotz eingehender Vorarbeiten der Sitz der Kirchenregierung noch nicht endgültig bestimmt werden, so ist Vorsorge getroffen, dass bis zu demselben Zeitpunkt auch diese Frage entschieden und ein Vertrag abgeschlossen ist.

Wichtiger aber als Verfassungsgründung und Bildung der Kirchenregierung ist der Geist, in dem die Verhandlungen geführt wurden. Gewiss, es hat an erheblichen Meinungsverschiedenheiten nicht gefehlt; so gingen die Ansichten über die Frage auseinander, ob der Oberpfarrer (bisher „Superintendent”) von den Geistlichen seines Kreises oder vom Kreiskirchentag gewählt werden soll. Aber was die Verhandlungen im ganzen auszeichnete, war der Geist des vertrauensvollen, tatwilligen Zusammenwirkens, der die drei verschiedenen Gruppen an der entschlossenen Arbeit für den Aufbau der Thüringer evangelischen Kirche vereinigte. Eine volle Uebereinstimmung wurde über die wichtigsten Sätze der grundlegenden Bestimmungen erreicht: „Die Thüringer evangelische Kirche weiß sich in lebendigem Zusammenhang mit der gesamten Christenheit. Sie steht auf dem Grunde der Heiligen Schrift. Die Quelle ihrer Lehre und ihres Lebens ist Jesus Christus und sein Evangelium.” Ein Abgeordneter der neu angeschlossenen Kirche von Reuß j. L. fasste seine Eindrücke dahin zusammen, dass er nur jeder kirchlichen Körperschaft solchen Geist der Einmütigkeit wünschen könne, wie er hier zutage getreten sei.

Außer Stücken zur Verfassung (Grundlegende Bestimmungen, Kirchenkreise, Landeskirchentag, Landeskirchenrat, kirchliche Gesetzgebung und kirchlicher Haushalt, Uebergangs- und Schlussbestimmungen) wurden eine Reihe anderer wichtiger Vorlagen beraten. Ein Pfarrwahlgesetz wurde verabschiedet, das die Wahl des Pfarrers zweimal in die Hand der Kirchgemeindevertretung, einmal in die des Landeskirchenrates legt. Ein Uebereinkommen hinsichtlich des Religionsunterrichtes mit der Thüringer Lehrerschaft auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens wurde gutgeheißen, das unsern Kindern die wichtige evangelische Unterweisung in der Schule erhält. Mit den Kirchenmusikleitern wurde eine beide Teile befriedigende Vereinbarung getroffen. Das Ausnahmegesetz des früheren Volksrates von Thüringen, das den Pfarrerstand allein von der sonst allgemeinen Beamtenbesoldungsregelung ausschloss und ihn schwerer Not preisgab, nötigte (unter Vorbehalt aller Rechte dem Staat gegenüber) zum Erlass eines Kirchensteuergesetzes, das den ersten Schritt zur finanziellen Selbstständigkeit der Thüringer evangelischen Kirche bedeutet. Der Landeskirchentag erhob seine Stimme gegen Missstände im Volksleben, auch gegen die Sonntagsentheiligung. Ein Gesetz über die Einteilung und Verbindung von Kirchgemeinden („Sprengelgesetz”) gibt größeren Gemeinden mit mehreren ordentlichen Pfarrstellen das Recht, sich in Sprengel zu gliedern und auf diese Weise eine reichere Entfaltung des Gemeindelebens zu ermöglichen.

So gehören die zwölf arbeitsreichen Beratungstage der Ersten Synode der Thüringer evangelischen Kirche vom 4. bis 15. Oktober zu den bedeutsamsten, welche die bisherige kirchliche Entwicklung Thüringens kennt. Ein großes Werk ist der Vollendung nahe. Größere Zukunftsaufgaben warten. Möge der neuen Thüringer evangelischen Kirche der Geist des Vertrauens und der Einigkeit, der Arbeitsfreudigkeit und Tatkraft, der die Verhandlungen des Landeskirchentages zu Jena auszeichnete, als schönes Erbe für die Zukunft erhalten bleiben, damit sie jederzeit unserem Volke ihren in schwerer Zeit ganz besonders wertvollen Dienst in der rechten Weise zu leisten vermag!

Quelle:

Jenaische Zeitung vom 20.10.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00277666/JZ_Jenaische_Zeitung_169419428_1920_10_0113.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00376238

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelisch-lutherische_Kirchen#/media/Datei:Lutherrose.svg

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