100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Thüringen ist da, um zu bleiben

Die Suche nach einer Landesregierung hält an, aber die Situation ist nach der Spaltung der USPD etwas dynamischer geworden. Für die DDP argumentiert Marie Schulz für eine Koalition der Mitte und widerspricht dabei den Zweifeln der Deutschnationalen an der Lebensfähigkeit des Landes.

Das ehemalige Landtagsgebäude in Weimar

Die thüringische Frage.

Von Dr. Marie Schulz, Gera, Mitglied des Landtages.

Als in den Julitagungen in Weimar die Schwierigkeiten der Regierungsbildung sich häuften und fast überwindlich schienen, da erklärten sich die Abgeordneten der demokratischen Fraktion für eine längere Pause in den Verhandlungen. Mit gutem Grund: Man hoffte, dass die Parteien bei ruhiger Ueberlegung zu anderen Ergebnissen kommen würden, als sie die etwas gereizte Stimmung der letzten Verhandlungstage erzielen konnte. Auch konnten neue Ereignisse im Reich eine Umgruppierung der Parteien auch in Thüringen zur Folge haben.

Diese Erwartungen sind zum Teil in Erfüllung gegangen. Die Verbindung der drei Rechtsfraktionen, die eine Regierung der Mitte verhindert hatte, löst sich, und Deutsche Volkspartei wie Landbund scheinen zum Eintritt in eine Regierung mit Ausschluss der Deutschnationalen bereit. Die Deutsche demokratische Partei betonte auf dem Gothaer Parteitag noch einmal, dass sie eine Koalition der Mitte für die beste Lösung halte. So liegt nun die Entscheidung bei den Mehrheitssozialisten. In Altenburg waren ihre Führer unter den veränderten Umständen einer Koalitionsregierung geneigt. Aber inzwischen hat der Kasseler Parteitag der Deutschen Volkspartei im Reich eine Absage erteilt. Hoffen wir, dass dieser Beschluss die beginnende Einigung der Fraktionen in Thüringen nicht stört. Innerhalb der Unabhängigen Sozialdemokratie ist die erwartete Spaltung eingetreten. Ihre Wirkungen werden sich auch in den Landesversammlungen zeigen. Nach dem Abstimmungsergebnis in den thüringischen Orten (Gotha, Eisenach, Jena usw.) wird man annehmen können, dass sich im Thüringer Landtag ebenso wie in Preußen eine Moskauer Richtung von der alten unabhängigen Partei trennt. Diese Trennung kann, verbunden mit der Auflösung der Rechtsfraktion, unter Umständen eine Umgestaltung des Präsidiums noch sich ziehen. Ob sie auch Folgen für die Regierungsbildung haben wird, ist noch nicht abzusehen.

Jedenfalls ist für Thüringen eine Regierung auf breitester Grundlage das Gegebene. Sollen die Schwierigkeiten, die die Vereinheitlichung der thüringischen Staaten mit sich bringt, glücklich überwunden werden, so bedarf es dazu des guten Willens aller Bevölkerungsschichten. Eine Regierung, in der die Arbeiterschaft ausgeschaltet ist oder der sie nicht wenigstens zum Teil mit wohlwollender Neutralität gegenübersteht, wird sich nicht lange behaupten können. Ebenso aber ist es bei den schwierigen Ernährungsverhältnissen einzelner Teile Thüringens eine Notwendigkeit, dass auch die Landwirtschaft herangezogen wird. Treten dazu noch die Parteien, die sich im Wesentlichen aus dem handel- und gewerbetreibenden Mittelstand und der Beamtenschaft zusammensetzen, so ist eine sichere Basis für die Regierungsarbeit geschaffen.

Ihr Gegenstand ist der Ausbau Thüringens. Denn wir haben Thüringen, wir brauchen es nicht mehr zu schaffen. Umso seltsamer berührt es, wenn jetzt von verschiedenen Seiten abermals die Frage der Einigung und Selbstständigkeit Thüringens aufgerollt wird. Zunächst von Meiningen, wo der Abgeordnete Höfer, der Führer des Landbundes, die Seele der neuen Abtrennungsbewegung zu sein scheint. Das Ziel wird klar ersichtlich, wenn man die Nachrichten, die die Rechtspresse Thüringens über Bayern bringt, verfolgt. Da wird Bayern als der Staat der Ordnung gepriesen. Da werden die Ernährungsverhältnisse in Bayern mit denen Thüringens verglichen. Kurz – es wird Stimmung für Bayern gemacht, und die augenblickliche politische Konstellation in Bayern ist sicher nicht der letzte Grund dafür.

In volksparteilichen Kreisen wird andererseits, wie der kürzlich in der „Geraer Zeitung” erschienene Artikel Sigismunds beweist, der Gedanke des sofortigen Anschlusses an Preußen wieder erörtert. Die Bestimmungen, die die bisher bekannten Regierungsabsichten – ich erinnere nur an die Kreiseinteilung – hervorgerufen haben, unterstützt solche Bestrebungen. Aber meint man wirklich, dass alle die Forderungen, die ein oft allzugroßer Partikularismus stellt, in einer preußischen Provinz Thüringen eher erfüllt werden würden? Glaubt man, dass Preußen mehr Rücksicht auf die Erhaltung der einzelnen Kulturstätten nehmen wird als das geeinigte Thüringen?

Aber nicht nur thüringische Angelegenheit, Größeres steht hier auf dem Spiel. Die sofortige Vereinigung Thüringens mit Preußen, die Vergrößerung und Machterweiterung Preußens könnte in diesem Augenblick leicht für Süddeutschland das Signal zum Zusammenschluss unter Bayerns Führung sein. Schon mehrfach seit der Revolution war die Reichseinheit gefährdet. Unser Bestreben muss es sein, das Reich zu erhalten, nicht einen Anlass zur Spaltung zu schaffen.

Daher ist es unsere Sache, mit den gegebenen Tatsachen zu rechnen. Thüringens Einigung ist keine Frage, sie ist Tatsache. Aufgabe des Landtags und der neuen Regierung wird es sein, das Haus so auszubauen, dass alle Glieder angemessen darin leben können. Die baldige Bildung einer Regierung ist dazu notwendig. Sie kann zustande kommen, wenn die in Frage stehenden Parteien sich Thüringens Wohl zum obersten Ziel setzen. Sie muss zustande kommen, wenn nicht die Existenz Thüringens aufs ernsteste gefährdet werden soll.

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 26.10.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273724/JVB_19201026_252_167758667_B1_001.tif

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Land_Th%C3%BCringen_(1920%E2%80%931952)#/media/Datei:Hochschule_f%C3%BCr_Musik_Franz_Liszt_Weimar.jpg