100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Wirtschaftliches

Zum Monatsende gibt das Jenaer Volksblatt einen umfassenden Überblick über die handelspolitischen Ereignisse der vergangenen Wochen heraus. Die prekäre wirtschaftliche Situation Deutschlands ist gekennzeichnet durch hohe Reparationsforderungen und nur schwer zu überblickende Kriegsfolgelasten:

Ansicht der Reichsbank

Handelspolitischer Rückblick.

Wenn es noch eines besonderen Anlasses bedurfte, die an sich schon durch die Spekulation so hoch getrieben Börsenkurse noch höher emporklettern zu lassen, so was der Jahresabschluß der rheinischen Stahlwerke geeinigt, diese Wirkung auszuüben. Dieser Abschluß reihe sich den aus der Montanindustrie früher bekanntgewordenen Geschäftsergebnissen würdig an. Die Börse ist zurzeit trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten, unter denen die gesamte Industrie leidet, geradezu in einem Taumel begriffen. Sie sieht alles so rosenrot wie möglich an und wo es an Gründen für diesen Optimismus fehlt, da schafft sie solche eben künstlich herbei. Die Gerüchte von den russischen Milliardenbestellungen an die deutschen Lokomotivfabriken sind zwar sofort von seiten der beteiligten Industrie aus das richtige Maß zurückgeführt worden. Sie stellen zweifellos bis jetzt nur Zukunftsmusik dar und es ist durchaus ungewiss, ob es in Wirklichkeit überhaupt zur Ablieferung auch nur einer Lokomotive an Sowjetrußland kommen wird. Aber der Spekulation genügt schon das Gerücht, um die Kurse der Industriewerte weiter emporsteigen zu lassen.

Im Gegensatz zu dieser Börsenstimmung steht die Tatsache, daß der Kurs der Mark sich absolut nicht aus seinem Tiefstand zu erheben vermag. Das beweist, daß man im Auslande die industriellen Zukunftsaussichten Deutschlands durchaus nicht so günstig beurteilt, wie das deutsche Börsenpublikum, zu dem ja heute leider wieder zahlreiche Spekulanten aus kleinem und mittlerem Kapitalistenkreisen gehören, denen ein eigenes Urteil über den inneren Wert der Industriepapiere durchaus fehlt und die sich daher nur zu leicht von Gerüchten und leeren Vermutungen beeinflussen lassen. Im Auslande beurteilt man vor allem die Kohlenschwierigkeiten der deutschen Industrie nach wie vor sehr ernst, und die Wahrscheinlichkeit, daß der englische Bergarbeiterstreit von längerer Dauer sein wird, kann diese Schwierigkeiten nur noch vergrößern.

Recht wenig erfreulich waren auch die Mitteilungen des preußischen Finanzministers über das Drei-Milliardendefizit im Preußenhaushalt und über die ungünstige Lage der preußischen Finanzen überhaupt. Man darf ohne weiteres annehmen, daß die Lage der anderen Länder und auch der meisten Gemeinden nicht günstiger sein wird. Die Steuerreform hat den Ländern und Gemeinden einen großen Teil ihrer Finanzhoheit genommen und damit auch die Möglichkeit, durch Erhöhung ihrer Einnahmen die Mehrausgaben auszugleichen. Finanznot also überall, und zwar trotz einer Steuerbelastung der Bevölkerung, die von den produktiv tätigen Kreisen schon jetzt im wachsenden Maße als unerträglich empfunden wird. Einen kleinen Lichtblick bildete demgegenüber nur der letzte Reichsbankausweis, der eine Verminderung des Umlaufs von Darlehenskassenscheinen um über 200 Millionen Mark aufweist. Leider ist aber nicht anzunehmen, daß es sich hier um eine dauernde Erscheinung handelt. Man muß sich deshalb hüten, in den Ausschreitungen der Börsenspekulation, die sich vielleicht noch bitter rächen werden, etwa ein Abbild unserer wirklichen Wirtschaftslage zu erblicken.

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 28.10.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273726/JVB_19201028_254_167758667_Be_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371147

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsbank#/media/Datei:Bundesarchiv_Bild_183-1982-0114-501,_Berlin,_J%C3%A4gerstra%C3%9Fe,_Reichsbank.jpg