Die USPD auf dem Weg nach links
Von Moskau aus wird die Internationale der kommunistischen Arbeiterparteien aufgebaut. Während die SPD dem Ereignis denkbar fern steht, ist die USPD über ihre Haltung zur Dritten Internationale gespalten. Der linke Flügel strebt nach Moskau, während der rechte Parteiflügel am Prinzip des Parlamentarismus festhält. Dass dieser von den Moskauer als „Stütze der kapitalistischen Diktatur“ radikal abgelehnt wird, macht dieser Bericht deutlich.
Der Bericht über die 3. Internationale.
V.
Die kommunistischen Parteien und der neue Parlamentarismus.
- Die neue Epoche und der neue Parlamentarismus.
Die Stellung der sozialistischen Parteien zum Parlamentarismus war anfänglich, in der Zeit der 1. Internationale, die der Ausnützung der bürgerlichen Parlamente zum Zwecke der Agitation. Die Teilnahme am Parlament wurde vom Gesichtspunkt der Entwicklung des Klassenbewußtseins, d. h. des Erwachens der Klassenfeindschaft des Proletariats gegen die herrschende Klasse betrachtet. Dieses Verhältnis wandelte sich nicht unter dem Einfluß ihrer Theorie, sondern unter dem Einfluß der politischen Entwicklung. Durch die ununterbrochene Steigerung der Produktivkräfte und die Erweiterung des kapitalistischen Ausbeutungsgebietes gewann der Kapitalismus und gewannen mit ihm die proletarischen Staaten dauernd an Festigkeit.
Hieraus entstanden: die Anpassung der parlamentarischen Taktik der sozialistischen Parteien an die „organische“ gesetzgeberische Arbeit des bürgerlichen Parlaments und die immer größere Bedeutung des Kampfes um Reformen im Rahmen des Kapitalismus, die Herrschaft des sogenannten Mindestprogramms der Sozialdemokratie, die Verwandlung des Programms an eine Debattierformel für ein überaus entferntes „Endziel“. Auf dieser Grundlage entwickelten sich dann die Erscheinungen des parlamentarischen Strebertums der Korruption, des offenen und versteckten Verrats an den elementarsten Interessen der Arbeiterklasse.
Das Verhältnis der 3. Internationale zum Parlamentarismus wird nicht durch eine neue reine Lehre, sondern durch die Veränderung der Rolle des Parlamentarismus selbst bestimmt. In der vorhergehenden Epoche hat das Parlament als Werkzeug des sich entwickelnden Kapitalismus eine in gewissem Maße historisch fortschrittliche Arbeit geleitet. Unter den gegenwärtigen Bedingungen des zügellosen Imperialismus aber hat sich das Parlament in eines der Werkzeuge der Lüge, des Betruges, der Gewalt und des entnervenden Geschwätzes verwandelt. Angesichts der imperialistischen Verheerungen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Räubereien und Zerstörungen verlieren parlamentarische Reformen, des Systems, der Stetigkeit und der Planmäßigkeit beraubt, für die werktätigen Massen jede praktische Bedeutung.
Wie die ganze bürgerliche Gesellschaft, verliert auch der Parlamentarismus seine Festigkeit. Der plötzliche Uebergang von der organischen zur kritischen Epoche schafft die Grundlage für eine neue Taktik des Proletariats auf dem Gebiete des Parlamentarismus. So hat die russische Arbeiterpartei (die Bolschewiks) das Wesen des revolutionären Parlamentarismus schon in der vorhergegangenen Periode ausgearbeitet, weil Rußland seit 1905 aus dem politischen und sozialen Gleichgewicht gebracht und die Periode der Stürmer und Erschütterungen eingetreten war.
Soweit einige Sozialisten, die zum Kommunismus neigen, darauf hinweisen, daß der Augenblick für die Revolution in ihren Ländern noch nicht gekommen sei und es ablehnen, sich von den parlamentarischen Opportunisten abzuspalten, gehen sie – dem Wesen der Sache nach – aus von der bewußten oder unbewußten Schätzung der bevorstehenden Epoche als einer Epoche der relativen Festigkeit der imperialistischen Gesellschaft und nehmen an, daß auf dieser Grundlage im Kampfe um Reformen eine Koalition mit den Turati und Longuet sich praktische Resultate ergeben können. Sobald der Kommunismus in Erscheinung tritt, muß er theoretisch von der Klarlegung des Charakters der gegenwärtigen Epoche ausgehen (Höhepunkt des Kapitalismus; imperialistische Selbstverneinung und Selbstvernichtung; ununterbrochenes Anwachsen des Bürgerkrieges usw.). In den verschiedenen Ländern können die Formen der politischen Beziehungen und Gruppierungen verschieden sein. Das Wesen bleibt aber überall ein und dasselbe: es handelt sich für uns um die unmittelbare politische und technische Vorbereitung des Aufstandes des Proletariats für die Zerstörung der bürgerlichen und für die Aufrichtung der neuen proletarischen Macht.
Das Parlament kann gegenwärtig für die Kommunisten auf keinen Fall der Schauplatz des Kampfes um Reformen, um Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse sein, wie dies in gewissen Augenblicken der vorhergegangenen Periode der Fall war. Der Schwerpunkt des politischen Lebens ist gegenwärtig ganz und endgültig über die Grenzen des Parlaments hinausverlegt. Andererseits ist die Bourgeoisie nicht nur kraft ihrer Beziehung zu den werktätigen Massen, sondern auch kraft ihrer verwickelten Wechselbeziehungen innerhalb der bürgerlichen Klassen gezwungen, einen Teil ihrer Maßnahmen auf die eine oder andere Weise im Parlament durchzuführen, wo die verschiedenen Cliquen um die Macht handeln, ihre starken Seiten offenbaren, ihre schwachen Seiten verraten, sich bloßstellen usw. usw.
Deshalb ist es die unmittelbare historische Aufgabe der Arbeiterklasse, diese Apparate den Händen der herrschenden Klassen zu entreißen, sie zu zerbrechen, zu vernichten und an ihre Stelle neue proletarische Machtorgane zu schaffen. Gleichzeitig aber ist der revolutionäre Staat der Arbeiterklasse tief daran interessiert, seine Kundschafter in den parlamentarischen Einrichtungen der Bourgeoisie zu haben, um diese zerstörende Aufgabe zu erleichtern. Hieraus ergibt sich ganz klar der Grundunterschied zwischen der Taktik der Kommunisten, der mit revolutionären Zielen in das Parlament tritt und der Taktik des sozialistischen Parlamentariers. Der letztere geht von der Voraussetzung der relativen Festigkeit der unbestimmten Dauer der bestehenden Herrschaft aus. Er macht es sich zur Aufgabe, mit allen Mitteln die Reformen zu erreichen und ist selbst daran interessiert, daß jede Errungenschaft von der Masse in gebührender Weise als Verdienst des sozialistischen Parlamentarismus geschätzt werde (Turati, Longuet und Ko.)
An die Stelle des alten Anpassungsparlamentarismus tritt der neue Parlamentarismus als eines der Werkzeuge zur Vernichtung des Parlamentarismus überhaupt. Die widerwärtigen Ueberlieferungen der alten parlamentarischen Taktik jedoch stoßen einige revolutionäre Elemente in das Lager der grundsätzlichen Gegner des Parlamentarismus (I. W. revolutionäre Syndikalisten, KAPD.). Der zweite Kongreß erhebt daher folgende Thesen zum Beschluß:
[…]
- Der Parlamentarismus als Staatssystem ist eine „demokratische“ Herrschaftsform der Bourgeoisie geworden, die auf einer bestimmten Entwicklungsstufe der Täuschung einer Volksvertretung bedarf, die äußerlich als eine Organisation eines außerhalb der Klassen stehenden „Volkswillens“ erscheint, im wesentlichen aber eine Maschine der Unterdrückung und Unterjochung in den Händen des herrschenden Kapitals ist.
- Der Parlamentarismus ist eine bestimmte Form der Staatsordnung, daher kann er durchaus nicht die Form der kommunistischen Gesellschaft sein, die weder Klassen noch Klassenkampf, noch irgend eine Staatsmacht kennt.
- Der Parlamentarismus kann auch keine Form der proletarischen Staatsverwaltung in der Uebergangsperiode von der Diktatur der Bourgeoisie zur Diktatur des Proletariats sein. Im Augenblick des zugespitzten Klassenkampfes, im Bürgerkrieg, muß das Proletariat seine staatliche Organisation unvermeidlich als Kampfesorganisation aufbauen, in welche die Vertreter der früher herrschenden Klassen nicht zugelassen werden. Dein Proletariat ist in diesem Stadium jede Fiktion des „Volkswillens“ direkt schädlich. Das Proletariat bedarf keiner parlamentarischen Teilung der Macht, sie ist ihm schädlich. Die Form der proletarischen Diktatur ist die Sowjetrepublik.
[…]
Quelle:
Neue Zeitung vom 12.9.1920
Bild:
http://www.simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/pdf/1/25/25_03.pdf