100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Finanzminister Wirth in der Kritik

Als Nachfolger von Matthias Erzberger im Reichsfinanzministerium setzte Joseph Wirth dessen Politik der fiskalischen Konsolidierung fort. Angesichts von enorm gestiegenen Ausgaben und geringen Möglichkeiten einer Kreditaufnahme war dies nur über neue Steuern möglich. Wenig überraschend ist die harte Kritik an dieser Politik aus dem bürgerlichen Lager, was bereits Erzberger erleben musste. Die Weimarische Landes-Zeitung teilt zwar diese Kritik, aber fürchtet, dass die Reparationsforderungen der Entente auch einem anderen Finanzminister diese Linie aufzwingen würde.

Grabstein Wirths in Freiburg

Regierungsunlust.

Die Symptome einer zunehmenden Regierungsunlust bei den gegenwärtig regierenden Persönlichkeiten mehren sich auffällig. Gerade in den Kreisen, die den führenden Männern der Reichsregierung am nächsten stehen, ist mit besonderem Eifer die Frage des Wiedereintritts der Mehrheitssozialisten in die Regierung erörtert. Es liegt nahe, daß eine solche Erörterung den Wünschen des Reichspräsidenten Ebert entsprechen mag. Man erinnert sich noch des unliebsamen Aufsehens, das seinerzeit die Veröffentlichung eines vertraulichen Rundschreibens der sozialdemokratischen Parteileitung anläßlich der Neubildung der Regierung nach den Reichstagswahlen machte. Aus jenem Rundschreiben ergab sich, daß die Sozialdemokraten den einstweiligen Reichspräsidenten als Sachwalter ihrer Parteiinteressen betrachten. Mit dieser Enthüllung hing es offenbar auch zusammen, daß Ebert damals in einem Schreiben an die neue Regierung den Wunsch aussprach, die Wahl eines endgültigen Reichspräsidenten solle möglichst bald vorgenommen werden. Seither ist es von dieser Wahl, die durch die Verfassung gefordert wird, merkwürdig still geworden. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, welche Aufregung zu Ende des vorigen Winters durch die bekanntgewordene Absicht einflußreicher Politiker hervorgerufen wurde, die Bestimmung der Verfassung, nach welcher der Reichspräsident aus unmittelbarer Wahl durch das Volk hervorgehen muß, abzuändern. Das war einer der Gründe, die den Anstiftern des Kapp-Putsches die Behauptung ermöglichten, daß sie die Verfassung nicht verletzen, sondern vielmehr verteidigen wollten. Heute aber scheint es niemand mehr eilig zu haben, mit der Volkswahl des Reichspräsidenten endlich verfassungsmäßige Zustände herzustellen. Ebert sitzt fest und ruhig. Er allein zeigt keine Spur von Regierungsmüdigkeit, sondern beschäftigt sich allem Anschein nach mit der Neubefestigung der Stellung seiner Partei. Dabei müssen natürlich Ministersitze frei werden, und so hat sich der Minister, die sich auf ihren Plätzen nicht sicher fühlen, eine merkliche Unruhe bemächtigt. In den parlamentarischen Verhältnissen läge bisher kein Anlaß zu den immer wieder auftauchenden Krisengerüchten. Die gegenwärtige Reichsregierung war von der Stunde ihrer Geburt an eine Minderheitsregierung. Das hat bis heute keine Unzuträglichkeiten herbeigeführt. Warum soll sie also nicht gelassen weiter regieren, warum nicht nach ihren besten Kräften sich bemühen, wieder gutzumachen, was die vorher regierenden Sozialdemokraten verdorben haben, und ruhig abwarten, welche Haltung die Mehrheitssozialisten künftig einnehmen wollen? Man kann leicht ersehen, daß die Mehrheitssozialisten selbst sich darüber noch nicht klar sind und alles von der Lösung abhängig machen, die der Konflikt innerhalb der unabhängigen sozialdemokratischen Partei finden wird. Für eine politische Neuorientierung ist es also zweifellos noch zu früh.

Etwas anderes als die allgemeine Regierungsunlust, die sich aus den aufgeklärten politischen Verhältnissen ergibt, ist die Verstimmung, die bei einzelnen Ressortministern zutage tritt und bei dem Reichsfinanzminister Dr. Wirth bereits zum Rücktrittsgesuch führte. Man erfährt jetzt, daß dieses Rücktrittsgesuch abschlägig beschieden oder zurückgezogen wird. Ob man sich darüber freuen soll, ist ernstlich zu überlegen. Der Grundsatz, den Dr. Wirth anläßlich der Besoldungsfragen gegenüber den Ministern für Verkehr und Post aufgestellt haben soll: keine neuen Aufgaben ohne Deckung!, leuchtet allerdings unter normalen Verhältnissen ein. Diesmal muß man sich aber über zwei Punkte klar sein: Erstens kommt man nicht hinweg über die Ausgaben, die mit jenen Besoldungsfragen zusammenhängen, denn was dem Personal der Eisenbahnen und der Post zugestanden ist, kann unter den gegebenen Verhältnissen nicht als übermäßig bezeichnet werden. Und zweitens kann es sich nicht darum handeln, für irgendwelche Ausgaben Deckung durch neue Steuern zu suchen, solange die bereits beschlossenen Steuergesetze großtenteils bloß auf dem Papier stehen. Die Aufgabe des Reichsfinanzministers ist beschleunigte Durchführung dieser Gesetze. Die Einkommenssteuer jedoch wird beispielsweise erst 1921 wirklich durchgeführt werden, und dann muß sich, bei richtiger Durchführung, nach den gegenwärtigen Einkommensverhältnissen ein weit höheres Erträgnis als das angenommene von neun Milliarden ergeben. Die Suche nach neuen Steuern ist daher ebenso voreilig wie der Gedanke an eine Zwangsanleihe. Das aber gegenwärtig die schwebenden Schulden in schwindelnd raschem Tempo wachsen, ist freilich furchterregend. In der Denkschrift über „Die Steuerbelastung in Deutschland“, die Dr. Wirth ausarbeitete und die dem Vorsitzenden der Friedenskonferenz und den alliierten Regierungen übergeben wurde, heißt es: „Müßte man aber weitere schwebende Schulden in großem Umfange aufnehmen, so ist nicht abzusehen, wohin diese Entwicklung führen würde. Zweifellos würde auf diese Weise die Leistungsfähigkeit Deutschlands und damit die Möglichkeit Verpflichtungen aus dem Friedensvertrag nachzukommen in raschester Folge sinken.“ Seit damals hat binnen dritthalb Monaten der ungedeckte Umlauf an Banknoten und Darlehnskassenscheinen um 7 Milliarden zugenommen, zum weitaus größten Teil infolge neuer schwebender Schulden des Reiches. Die Denkschrift, die den Gegnern überreicht wurde, enthält also Dr. Wirths eigenes vernichtendes Urteil über eine Finanzpolitik, für die er die Verantwortung trägt. Kann man die Frage, ob nicht ein anderer Mann dieser Verantwortung besser gewachsen wäre, getrosten Mutes verneinen?

Quelle:

Weimarische Landes-Zeitung vom 21.9.1920

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Wirth#/media/Datei:Grab_Reichskanzler_Wirth.jpg