Finanztalk in Brüssel
Die internationale Finanz-Konferenz in Brüssel, bei der neben den ehemals kriegsführenden Mächten auch die Neutralen anwesend sind, missfällt der Rhön-Zeitung, da dort keine den Versailler Vertrag betreffenden Fragen erörtert werden sollen, sondern nur die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents thematisiert wird. Dennoch ermöglicht die eher technisch ausgerichtete Konferenz einen weniger emotionalen Austausch, was zur Verbesserung der europäischen Kooperation beitragen kann.
Die Brüsseler Konferenz.
Keine Erörterung der Wiedergutmachungsfrage gestattet.
In der belgischen Kammer wurde Freitag nachmittag die internationale Finanzkonferenz, die der Völkerbund nach Brüssel einberufen hat, eröffnet. Die Begrüßungsrede hielt Präsident Ador, der ehemalige schweizerische Bundespräsident. Er schilderte in wenigen Sätzen die heutige wirtschaftliche und finanzielle Lage der europäischen Staaten unter den Einwirkungen des Krieges und bezeichnete es als das vornehmste Ziel der Konferenz, Grundlagen für die Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Arbeiten zu finden.
Mit erhobener Stimme erklärte er dann, daß die Fragen, die durch den Vertrag von Versailles geregelt würden, nicht berührt werden sollten. Diese Versammlung sollte nur technischen Charakter haben. Die Kriegsführenden und die Neutralen müßten sich zusammentun, um den finanziellen Ruin zu vermeiden. Diese Einigung setze aber voraus die vollständige Ausführung der Verpflichtungen, die im Friedensvertrag enthalten seien.
Nach der Rede Adors begrüßte der belgische Ministerpräsident de la Croix die Delegierten im Namen des Königs und der Regierung. Hierauf wurde die Tagesordnung für die einzelnen Sitzungen der Konferenz festgelegt- Die ersten drei Tage, vom 25. September ab, dienen der allgemeinen Besprechung. Zunächst werden die finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse der europäischen Neutralen zum Vortrag kommen. Die Mittelmächte, also Deutschland, Österreich, Ungarn und Bulgarien werden voraussichtlich am 28. September ihre finanzielle und wirtschaftliche Lage darlegen dürfen.
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Vorbehalt der französischen Delegation
Wie aus französischer Quelle verlautet, ist die französische Delegation fest entschlossen, nicht zu gestatten, daß in ihrer Gegenwart und noch weniger unter ihrer Mitarbeit irgendwie an der Integrität des Versailler Vertrages gerührt werde. Sie würde es nicht dulden, daß unter dem Vorwand, die finanzielle und die wirtschaftliche Lage Europas zu besprechen, die Frage einer Revision des Versailler Vertrages aufgeworfen werden könnte.
Damit soll wohl gesagt sein, daß in Brüssel weder von der Wiedergutmachung noch von den Deutschland aufzuerlegenden Lasten noch vor der Genfer Konferenz, die prüfen soll, ein Wort gesprochen werden soll. Wie es den deutschen Delegierten dann überhaupt noch möglich sein soll, die finanzielle und wirtschaftliche Lage Deutschlands wahrheitsgetreu zu schildern, erscheint uns schlechthin rätselhaft. Präsident Ador wird die Erörterungen unmöglich in den von ihm und den Franzosen gewünschten Grenzen halten können. Der Versailler Vertrag hat so tief in das Wirtschaftsleben sämtlicher europäischer Staaten eingegriffen, daß eine Darlegung der augenblicklichen Lage nur unter Berücksichtigung der Versailler Bestimmungen möglich ist. Es wäre nicht zu verwundern, wenn die Brüsseler Konferenz an diesen künstlich hervorgerufenen Schwierigkeiten scheitern sollte, zumal die Entschließungen der Konferenz nach diplomatischem Gebrauch einstimmig angenommen werden müssen.
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Eine neue Einladung des Völkerbundes.
Der Generalsekretär des Völkerbundes hat der deutschen Regierung eine Einladung zu einer am 5. Oktober in Paris beginnenden Tagung des Ausschusses für Transit- und Verkehrsfragen zugehen lassen. Die Deutsche Regierung hat diese Einladung angenommen und wird ihre Vertreter nach Paris schicken. Es sollen dort in erster Reihe die Maßnahmen besprochen werden, die den internationalen Reiseverkehr zu erleichtern geeignet sind. Das gilt besonders für das Zoll- und Passwesen.
Quelle:
Rhön Zeitung vom 27.9.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00172673/RhoenZ_1920-0881.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00202110
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Gustave_Ador#/media/Datei:GustaveAdor.jpg