Immer noch ohne Regierung
Nachdem seit den Landtagswahlen schon über zwei Monaten vergangen sind, hat sich nach wie vor keine arbeitsfähige Regierung gebildet. Die Weimarische Landes-Zeitung sorgt sich um die Arbeitsfähigkeit des Parlamentarismus und macht vor allem die USPD für die Lage verantwortlich. Nun gelte es, die Interessen des Vaterlandes über die Parteiinteressen zu stellen, so die Forderung des Blattes.
Was wird in Thüringen?
Weimar, den 4. September 1920.
Der Thüringer Staatsrat, dem nach den mißglückten Versuchen, in Thüringen eine lebensfähige Regierung zu bilden, die Führung der Geschäfte des Landes übertragen wurde, ist zusammengetreten und sieht sich vor der Erledigung eines außerordentlich umfangreichen Arbeitspensums; der Herbst rückt näher und damit der Wiederzusammentritt des Landtages. Inzwischen wird die Frage weiter erörtert, ob es möglich sein wird, nach Beginn der Herbsttagung eine Regierung zustande zu bringen. Eine gemeinsame Sitzung der sozialdemokratischen Landtagsfraktion und des Vorstandes des Beirates des sozialdemokratischen Bezirksverbandes Thüringen hat sich kürzlich in Weimar mit dieser Frage beschäftigt und beschlossen, noch einmal den Versuch einer Regierungsbildung mit den Unabhängigen und den Demokraten zu machen. Sollte dieser Versuch scheitern und auch ein Geschäftsministerium, ergänzt durch nichtbeamtete Vertreter der Unabhängigen nicht zustande kommen, so wird die sozialdemokratische Fraktion für die Auflösung des Landtages stimmen.
Dieser Versuch kann schon als gescheitert gelten, denn zur selben Zeit, als er ins Auge gefaßt wurde, haben die Unabhängigen auf ihrer Landeskonferenz beschlossen, auch für die Zukunft an der Erklärung der Fraktion im Landtag und an den von ihr für die Beteiligung an der Regierung aufgestellten Bedingungen festzuhalten. Da die Demokraten diese Richtlinien wahrscheinlich nicht annehmen werden, so ist also der von den Sozialdemokraten in Aussicht genommenen Versuch von vornherein hinfällig. Es kommt den Unabhängigen offenbar in erster Linie nicht auf die Wahrung der Interessen des Thüringer Landes, sondern darauf an, den Parlamentarismus lächerlich zu machen. Das zeigt auch ihr Verhalten im Gothaer Einzellandtag, der durch den Austritt der unabhängigen Abgeordneten beschlußunfähig geworden ist und sich auflösen muß. Gleichlaufend mit den Bestrebungen von links, die Regierungsbildung zu ermöglichen, gehen Bestrebungen von rechts, eine rein bürgerliche Regierung zustande zu bringen. Die Entscheidung liegt auch hier bei den Demokraten, die von der Entscheidung stehen, ob sie in eine solche Regierung eintreten wollen. Sie stehen vor einer schweren Entscheidung. Eine rein bürgerliche Regierung würde, darüber kann kein Zweifel bestehen, auch von den Rechtssozialisten bekämpft werden. Das Ziel der Politik der mittleren Linie aber ist und muß bleiben, die Kluft zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum nicht noch weiter zu vertiefen, sondern zu überbrücken. Es bliebe demnach nichts anderes übrig, als den Landtag aufzulösen und das Thüringer Volk noch einmal entscheiden zu lassen.
Eine Auflösung des Landtages müßte natürlich verhindert werden, die könnte kein einsichtiger Politiker gutheißen, und selbst die Unabhängigen, die wohl am meisten darauf rechnen, würden wahrscheinlich ihr blaues Wunder bei einer Neuwahl erleben. Es handelt sich bei der Regierungsbildung zweifellos weniger um die Haltung der vier Demokraten. Ausschlaggebend bleibt die Stellungnahme der Rechtssozialisten, die es völlig in der Hand haben, sich von dem allzu starken Einfluß der U. S. P. D. zu befreien und mit den bürgerlichen Parteien eine Mehrheit zu bilden, aus der eine tragfähige Regierung hervorgehen kann. Denken die Sozialisten weniger an ihre Parteiinteressen und mehr an das Wohl des neuen Staates Thüringen, so dürfte ihnen der Weg zur Lösung der mehr als peinlichen Situation nicht ungangbar erscheinen. Dann würde auch der unerquickliche Zustand, daß Thüringen immer noch ohne verfassungsmäßige Regierung ist, endlich beendigt.
Quelle:
Weimarische Landes-Zeitung vom 5.9.1920
Bild:
http://www.simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/pdf/1/25/25_10.pdf