100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Polnischer Antisemitismus

Im Kontext des Polnisch-Sowjetischen Krieges kommt es auch zu zahlreichen Übergriffen auf die jüdische Zivilbevölkerung. Juden werden verdächtigt Sympathien für die vorrückenden Bolschewisten zu hegen und werden zu Opfern militärischer Willkür. Die sozialistische Neue Zeitung aus Jena bringt einen Sonderbericht über die antisemitischen Vorkommnisse. Wie viele Personen hierbei wirklich zu Schaden kommen, ist nur schwer zu ermitteln, aber die breite internationale Berichterstattung wird das Ansehen des jungen polnischen Staates schwer schädigen.

Antisemitisches und antibolschewistisches Propagandaplakat

Die polnische Hölle.

Der Sonderberichterstatter der „Freiheit“, unseres Zentralorgans veröffentlicht nachstehenden Artikel:

Ich habe lange gezögert, ausführlich von den Dingen zu sprechen, die in Polen und Litauen im ganzen Operationsgebiet die jüdische Bevölkerung im Innersten bewegen. Ich habe an die Dinge nicht glauben wollen, die von Juden und Russen erzählt wurden und habe auf die Dokumente gewartet, die mir versprochen worden waren. Nun aber, da durch den polnischen Vormarsch eine riesengroße Gefahr für Hunderttausende der jüdischen Bevölkerung erwachsen ist, wäre Schweigen ein Verbrechen.

Wenn nur der zehnte Teil von dem wahr ist, was die jüdische Bevölkerung wie die russischen Truppen über die Greueltaten der Polen an den Juden beim Rückzuge erzählen, so muß ein Schrei der Empörung und Entrüstung durch die ganze zivilisierte Welt gehen; dann hat die moderne Geschichte nur noch das Beispiel der Armeniergreuel das zum Vergleich herangezogen werden könnte. Ich bin weder Jude noch Bolschewist, also vor dem Vorwurf der Voreingenommenheit gefeit. Ich habe trotzdem alle Erzählungen als die üblichen Kriegsgreuelmärchen zunächst abgelehnt. Erst als ich Zeugen traf, die nach menschlichem Ermessen als einwandfrei gelten müssen, als Augenzeugen zögernd und halb widerwillig, weil in Furcht, mit Wort für Wort bestätigten, was die Fama [römische Götting des Ruhmes, Anm.] erzählte oder auch die Uebertreibung einer ganzen Volksschicht sah, als alle Straßen in Polen und Litauen mit flüchtenden Juden überschwemmt waren, als über die deutsche Grenze Hunderte und Tausende flüchteten, als Männer, Frauen und Kinder Hab und Gut im Stich ließen und in das Elend gingen, nur um das Leben zu retten, erst da habe ich mein Zweifeln aufgegeben und halte es nun für meine Pflicht, an das Gewissen der Kulturwelt zu appellieren, um das Leben Hundertausender jüdischer Männer, Frauen und Kinder zu retten.

Ich habe nichts zu beschönigen. Es ist richtig, daß die gesamte kommunistische Miliz in den von den Russen besetzten Gebieten fast ausschließlich aus Juden bestanden hat, abgesehen von wenigen in rein ländlicher Gegend gelegenen Grenzorten. Es ist richtig, daß die revolutionären Komitees aus mitgebrachten jüdischen Agitatoren bestanden, nicht nur aus russischen, sondern auch österreichischen und ungarischen Juden. Es ist richtig, daß ein Teil der jüdischen Bevölkerung sich in der Hoffnung, vom Polenjoch befreit zu sein, nur allzu willig den kommunistischen Agitatoren zur Verfügung gestellt hat. Nirgends aber sind mir Erschießungen oder irgendwelche Greueltaten oder Racheakte bekannt geworden, die die Bolschewisten oder die jüdische Bevölkerung an den Polen verübt haben. Das alles ist kein ausreichender Grund, daß jetzt ein ungeheurer Judenprogrom von den rückkehrenden Polen veranstaltet werden dürfte, das alles ist vor allem keine Entschuldigung für die Greueltaten, die vorher von den Polen begangen worden sind. Ich gebe als Chronik wieder, was mir mit möglichst genauen Angaben berichtet wurde. Obwohl ich jede Erzählung auf das sorgfältigste nachgeprüft und durch voneinander unabhängige Gewährsmänner habe berichtigen oder bestätigen lassen, muß die Verantwortung dafür doch bei denen bleiben, die mir das Material übergeben haben. Sie haben es mir nicht entgegengetragen. Ich habe es mir in mühseliger Arbeit erfragen müssen. Die Furcht ist so groß, daß man nicht einmal frei und offen zu klagen wagt. Ich beginne mit den weniger grausigen Fällen, die der Gerechtigkeit wegen wiedergegeben werden müssen und die auf eine einsichtige obere polnische Instanz zurückzuführen sind.

In Suwalki wurde der jüdische Schneidermeister Bärenstein beschuldigt, ein Paar Militärhosen, die ein polnischer Leutnant Parader ihm zum Aufbügeln gegeben hatte nicht abgeliefert, sondern für die anrückenden Bolschewisten behalten zu haben. Er wurde verhaftet und fortgeschleppt. Seinen Brüdern gelang es, gegen ein Lösegeld von 10.000 Mark den bereits Abtransportierten zu befreien. Ein kleiner jüdischer Junge findet auf der Straße ein kommunistisches Plakat, das nach Ansicht der Gewährsmänner von den Polen absichtlich hingeworfen wurde, um Material gegen irgendeinen Juden zu liefern. Er wird von polnischen Gendarmen verhaftet, mit dem Säbel über den Kopf geschlagen und zum Tode verurteilt. Erst durch Fürsprache einflußreicher Personen wird er auf Befehl einer einsichtigen oberen polnischen Dienststelle freigelassen.

Zu dem Inhaber einer Bierstube in der Marktstraße in Suwalki mit Namen Bonjiskowski: schmuggelt ein polnischer Junge zwei Tage vor dem Abzug einen Revolver in das Gastzimmer, kommt dann selbst mit polnischer Gendarmerie zurück und der jüdische Gastwirt wird unter dem Verdacht Waffen für die anrückenden Bolschewisten verborgen zu haben, verhaftet. Zufälligerweise erkennt der polnische Leutnant Parader an der Nummer den Revolver wieder den er am Morgen dem polnischen Jungen als einem Spitzel seiner Abteilung übergeben hat. Er läßt den jüdischen Gastwirt frei.

In Raschki wird ein aus Amerika zurückkehrender Jude mit Namen Nußbaum unter der Beschuldigung verhaftet, kommunistische Agitationsgelder mitgebracht zu haben. Gegen Zahlung von 36.000 Mark Lösegeld wird er schließlich freigelassen. Zwei Tage vor dem Abmarsch der Polen wird er von neuem verhaftet, an eine Telegraphenstange gebunden und mit Erschießen bedroht. Der Vater stirbt angesichts dieser Gefahr am Herzschlag, die Mutter wird schwer nervenkrank. Gegen neues Lösegeld läßt man ihn schließlich wieder frei.

Das waren die Maßnahmen an Orten, in denen wenigstens die verantwortlichen polnischen Behörden noch einiges Einsehen hatten. Ungeheuerlich aber ist das, was aus Grodno mir von Augenzeugen – jüdischen und russischen – berichtet worden ist.

Beim Abtransport der Polen haben diese Hunderte von jüdischen Männern und Frauen verhaftet und fortgeführt. Niemand weiß etwas von ihrem Schicksal. – Der Bäcker Schwarz in der Grodnoer Vorstadt soll den abziehenden Polen mehrere Oefen liefern; als er sich außerstande erklärt, nimmt man seine Tochter fest und droht sie zu vergewaltigen. Erst gegen ein Lösegeld von 80.000 Mark wird sie freigelassen. Dem Bäcker selbst reißen die polnischen Soldaten den Bart mit ganzen Haut- und Fleischfetzen ab. – Ueber das Abreißen von Bärten wird mehrfach auch aus Lomscha berichtet. Vor allem haben mir russische Soldaten bestätigt, daß sie mit eigenen Augen die Mißhandelten gesehen haben.

Ein amerikanischer Jude kehrt mit großen in Amerika für die Juden gesammelten Geldmitteln nach Grodno zurück. Die Polen dringen in seine Wohnung ein. Da er nicht anwesend ist, drohen sie seiner Schwester mit Vergewaltigung. Als sie um Hilfe schreit, wird sie erschossen. Der zu Hilfe eilende jüngste Bruder wird durch zwei Schüsse so schwer verletzt, daß er wenige Stunden darauf stirbt. Der Bruder aus Amerika wohnte selbst dem Begräbnis seiner Schwester bei.

Ein jüdisches Mädchen wurde erschossen aufgefunden; es war vergewaltigt worden. Auf seiner Brust trug es noch Papiere, die vom Schuß durchlöchert und von der Wunde durchblutet waren. Diese Papiere sollen mit anderm Anklagematerial nach Amerika gebracht worden sein.

Einen Tag vor dem Abzug verschwanden einundzwanzig zur Zwangsarbeit herangezogene jüdische Bürger. Nach mehreren Tagen fand man fünfzehn davon ermordet im Kartoffelacker; angeblich waren einem Teil davon Hände und Füße abgeschnitten. Nägel in den Kopf geschlagen. Augen und Zungen ausgerissen. Da die Bolschewisten gerade eine große Versammlung auf dem Paradeplatz veranstalteten, wurden die 15 verstümmelten Leichen dorthin gebracht. Acht waren überhaupt nicht zu erkennen, die übrigen sieben erkannte man an einzelnen Kleidungsstücken. Die Bolschewisten haben angeblich alle 15 Leichen photographiert.

In der Vorstadt Grodnos sollen allein 800 jüdische Häuser niedergebrannt sein. Ueber das Schicksal der meisten Bewohner ist nichts bekannt.

Quelle:

Neue Zeitung vom 19.9.1920

 

Bilder:

https://pl.wikipedia.org/wiki/Historia_%C5%BByd%C3%B3w_w_Polsce#/media/Plik:Pogrom_in_Polen_(4813792212).jpg

https://en.wikipedia.org/wiki/Racism_in_Poland#/media/File:Lapy_zydowskie.jpeg