100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Regierungskrise? Ruhe bewahren

Der Staatsrechtler Eduard Rosenthal, der maßgeblich an der Ausarbeitung der Thüringer Verfassung beteiligt war, kommentiert in der Weimarischen Landes-Zeitung die schleppende Regierungsbildung. Er gibt zu bedenken, dass die Verfassung nicht das Problem ist, sondern vielmehr der politische Wille fehlt. Änderungen an der Verfassung, die vermeintlich eine reibungslosere Regierungsbildung ermöglichen würden, sieht Rosenthal skeptisch und mahnt Pragmatismus an.

Die Villa Rosenthal in Jena

Regierungsbildung und Verfassung.

Von Prof. Eduard Rosenthal, Jena.

Die Schwierigkeiten einer Regierungsbildung in dem neuen Land Thüringen waren schon vor den Wahlen allen Kennern der politischen Verhältnisse klar. Vergeblich hatte man auf die Vorgänge im Reiche hingewiesen, wo die Verhältnisse günstiger lagen, da im Zentrum eine starke Partei der Mitte gegeben war. Der erbitterte Wahlkampf in Thüringen hatte das erwartete Ergebnis: Stärkung der extremen und Schwächung der Mittelparteien. Auf die politischen Vorgänge, die zum Scheitern der Regierungsbildung führten, soll hier nicht aufs neue eingegangen werden. Es soll nur geprüft werden, ob von einer Aenderung von Bestimmungen der Verfassung Abhilfe zu erhoffen ist. Das wäre nur der Fall, wenn man sich zu einer tiefgreifenden Neuerung entschließen würde, etwa zur Wiederaufnahme der im ersten Entwurf vorgeschlagenen, aber vom Staatsrat abgelehnten Fassung des § 35 dahin: „Die Mitglieder der Landesregierung werden vom Landtag nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt.“ Es war im Hinblick auf unsere Parteiverhältnisse das Koalitionsministerium als die Erfolg versprechende Lösung bin ich mir wohl bewußt, aber da auch die Schweizer Eidgenossenschaft ihre höchste Behörde, den Bundesrat, durch Einvernehmen der verschiedenen Parteien (trotz Verschiedenheit der Nationalitäten und Konfessionen) in langjähriger Uebung bildet und sich der Bundesrat des allgemeinen Vertrauens erfreut, hielt ich dafür, man sollte das, was sich in der alten demokratischen Republik bewährt hat, auch in unserem jungen Freistaat versuchen. Die Erfahrung, daß in unseren thüringischen Parlamenten viele Beschlüsse einstimmig gefaßt wurden, spricht für das Gelingen eines derartigen Versuchs. Denn die wichtigsten Fragen von grundsätzlicher Bedeutung werden doch im deutschen Reichstag festgelegt, sogar auf dem Gebiete des Schulwesens. Die Voraussetzung einer solchen Koalitionsregierung ist, daß alle an ihr Beteiligten auf dem Boden der Reichs- und Landesverfassung stehen. Freilich entspricht eine solche Regierung nicht dem Schema der herkömmlichen parlamentarischen Regierung. Aber warum sollen wir in Deutschland sklavisch ein fremdes Vorbild nachahmen und dasselbe nicht in einer unseren besonderen Verhältnissen entsprechenden Weise umgestalten! An der Grundlage eines jeden parlamentarischen Regierungssystems – und diese ist allein in der Verfassung des Reiches (§ 17) und in der Thüringer (§ 38) festgelegt: „Die Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung“ wird ja nicht gerüttelt. Die Mehrheit des Landtages kann daher in jedem Augenblick jedes Mitglied der Landesregierung zum Rücktritt zwingen. Damit wird auch der demokratische Grundgedanke des Parlamentarismus: Abhängigkeit der Regierung von der Mehrheit des Parlaments gewahrt. Und für demokratisch halte ich auch eine billige Rücksichtnahme auf die Minderheit. Ein solches System führt zum Innehalten einer mittleren Linie. Daß eine derartige Regierung reibungslos arbeitet, erwarte ich nicht; man kann das von keinem Kollegium ausgeprägter Persönlichkeiten erwarten. Jedes Mitglied der Landesregierung muß es sich eben gefallen lassen, überstimmt zu werden und kann sich dann durch schriftliche Begründung seines abweichenden Standpunktes von der Verantwortlichkeit befreien (Verf. § 46). Handelt es sich um tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten, dann mag der Ueberstimmte ausscheiden. Das Beispiel der Schweiz zeigt, daß die von mir vorgeschlagene Form der Regierungsbildung in einem freien Gemeinwesen gut funktioniert. Seien wir also nicht doktrinär verrannt, sondern haben wir den Mut, von einem Dogma parlamentarischer Orthodoxie abzuweichen. Die Erfahrungen der Staatspraxis werden uns die Wege zur Verbesserung des Systems weisen. Warum soll das junge Land nicht neue Bahnen beschreiten?

In den Landtagsverhandlungen hat unser Parteifreund Dr. Mehnert in bezug auf die Bildung der Regierung eine Aenderung der Verfassung angeregt in der Richtung, daß man die Wahl eines Ministerpräsidenten vorsieht oder irgend einem Parteiführer den Auftrag zur Bildung einer Regierung gibt. Der letzte Weg könnte nur beschritten werden, wenn man das Amt eines Staatspräsidenten schaffen würde, was sich schon aus Gründen der Sparsamkeit nicht empfiehlt. Das preußische System, daß der Landtagspräsident den Ministerpräsidenten beruft, verleiht ersterem eine allzu starke Macht und ist weder in einem anderen deutschen Lande noch im Auslande eingeführt. Die Frage der Schaffung eines Ministerpräsidenten ist vor Festlegung des Entwurfs unserer Verfassung sehr eingehend erwogen worden. Die „Begründung“ der Verfassung schildert die Rechtslage in den einzelnen Ländern.

In Württemberg wird der Ministerpräsident vom Landtag gewählt und beruft dann die übrigen Minister. In Bayern unterbreitet der vom Landtag gewählte Ministerpräsident dem Landtag eine Vorschlagsliste für die übrigen Minister. Er besetzt diese im Einverständnisse mit dem Landtag. Ebenso beruft in Sachsen, in Hessen und in Oldenburg der Ministerpräsident die übrigen Minister, während im Reiche der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister vom Reichspräsidenten ernannt werden. Warum man im Augenblick es nicht für richtig hielt, auch in Thüringen den Posten eines Ministerpräsidenten mit solch überragender Stellung zu schaffen, darüber spricht sich die „Begründung“ klar mit folgenden Worten aus: „Jetzt im Zeitpunkt nach der Gründung des neuen Staates empfiehlt sich eine derartige Einrichtung nicht, denn die Bildung des Staates aus früher selbstständigen Ländern dürfte eine gewisse Rivalität unter diesen entstehen, lassen, so daß vermieden werden muß, auch nur den Anschein zu erwecken, als ob durch einen mit Machtfülle ausgestatteten Ministerpräsidentenposten auch dem Lande, aus dessen Diensten er übernommen wurde, erhöhter Einfluß zugewiesen werden sollte. Wenn der Verschmelzungsprozeß der thüringischen Länder auch innerlich einmal zum Abschluß gelangt sein wird, kann dann eine Steigerung der Stellung eines leitenden Ministers noch durchgeführt werden.“ Vielleicht liest ein Eingeweihter zwischen den Zeilen noch andere Bedenken heraus. Auf jeden Fall sieht der letzte Satz eine Aenderung für die Zukunft vor. Für den Augenblick halte ich das nicht für notwendig. Der Vorsitzende des Staatsrats ist der gegebene Mann für die Führung der Verhandlungen. Ich hatte erwartet, daß der Staatsrat seinen Vorsitzenden dem Landtag für diese Aufgabe vorschlagen würde. Da dies unterlasssen wurde, wäre es Sache des Aeltestenrats gewesen, diesen oder einen anderen Vertrauensmann mit dieser Aufgabe zu betrauen. Wir müssen uns von dem Wahn befreien, als müßte alles durch Paragraphen geregelt sein. Der Reichspräsident Ebert hat auch Heinze und dann Trimborn zu Verhandlungen mit den Parteiführern beauftragt, obwohl von einem solchen Verfahren in der Reichsverfassung nicht die Rede ist. Auf Trimborns Verschlag wurde dann nach § 53 der Reichsverfassung Fehrenbach zum Reichskanzler ernannt. Auch in Thüringen sollte man einer aus den Verhältnissen sich ergebenden praktischen Entwicklung die Bahn nicht verschließen.

Quelle:

Weimarische Landes-Zeitung vom 16.9.1920

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Rosenthal#/media/Datei:Rosenthalvilla_Jena_2014.jpg