100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Ruhe und Ordnung in Thüringen

Der frisch gegründete Freistaat steht vor der Aufgabe neue Polizeikräfte aufzubauen. Ein einfacher Zusammenschluss der bisherigen Länderpolizeikräfte der thüringischen Staaten wäre nicht möglich, da manche der Zwergstaaten kaum eigene Polizeikräfte besaßen. Stattdessen waren sie auf Amtsbeihilfe aus Preußen angewiesen. Diese Abhängigkeit vom großen Nachbarn gelte es unbedingt abzuschaffen, so die Meinung des verantwortlichen Staatskommissars Walter Mattheus. Im folgenden Interview werden weitere Sicherheitsprobleme Thüringens dargestellt und der Vergleich zu anderen kleineren Ländern wie Mecklenburg-Strelitz gezogen.

Polizeikräfte der Kaiserzeit (von Richard Knötel, 1910)

Die neue staatliche Ordnungspolizei für Thüringen.

Ein Interview.

Im Hinblick auf die außerordentliche Wichtigkeit, welche die neu zu errichtende Staatspolizei auf den verschiedensten Gebieten für das öffentliche Leben des Staates Thüringen hat, hat der neue Vortragende Rat beim Ministerium des Innern der Thüringischen Landesregierung und Staatskommissar für die Entwaffnung der Zivilbevölkerung für Thüringen, Herr Walter Mattheus, die Freundlichkeit gehabt, in einer Unterredung Informationen über die neue Staatseinrichtung zu geben, die in Nachstehendem in ihrem wesentlichen Inhalt wiedergegeben seien.

Die meisten deutschen Einzelstaaten besitzen seit Jahr und Tag besondere Sicherheitspolizeikörper, denen in der Hauptsache die Aufgabe obliegt, unter den durch den Friedensvertrag veränderten Wehrmachtverhältnissen Ruhe und Ordnung im Lande aufrechtzuerhalten und den freistaatlichen Regierungen eine Stütze zu sein. Nur Thüringen, der jüngste deutsche Freistaat, entbehrte bislang, weil noch im Ausbau seiner staatlichen Ordnungspolizei. Infolgedessen bestand die Notwendigkeit in Notfällen die preußische Sipo oder gar die Reichswehr heranzuziehen. Auch für den Fall, daß bei der Ausführung des Entwaffnungsgesetzes wider Erwarten irgend ein Landesteil Thüringens die freiwillige Waffenabgabe unterlassen würde und dadurch eine zwangsweise Beschlagnahme der Waffen nötig wäre, müßte bei Ermangelung ausreichender einheimischer Polizeikräfte das Eingreifen preußischer Sipo oder schließlich der Reichswehr auf thüringischem Boden geduldet werden. Damit aber wäre in solchen Fällen der Einfluß der Thüringer Behörden auf den Verlauf der polizeilichen Aktionen so gut wie ausgeschaltet, die polizeiliche Gewalt würde zunächst für bestimmte Perioden und schließlich vielleicht dauernd in außerthüringische Hände übergehen. Die sich daraus ergebenden Verhältnisse würden unzweifelhaft von dem größten Teil aller Thüringer nicht gerade begrüßt werden. Im Gegenteil, das Land würde nur neuen Gefahren und Erschütterungen ausgesetzt werden, anstatt endlich dauernd zur Ruhe zu kommen.

Längst ist auch klar, daß die in den Thüringer Gemeinschaftsstaaten vorhandenen Polizeikräfte nicht entfernt genügen, der zunehmenden Unsicherheit zu steuern und dem täglich dreister auftretenden Verbrechertum tatkräftig entgegenzuwirken. Auch die Felddiebstähle, über welche die Landwirte schwere Klagen vorbringen, gehen über ein erträgliches Maß hinaus und mit Recht verlangen die Landwirte Schutz gegen dieselben. Die Forsten werden an manchen Stellen durch rücksichtslose Ausplünderung geradezu verwüstet und ungeheure Werte gehen so Volksgesamtheit verloren. In großzügiger, umfassender Weise muß hier Abhilfe geschaffen werden. Die staatlichen Machtmittel müssen vermehrt und so der Einfluß und das Ansehen des republikanischen Staatswesens in unserem Thüringen gestärkt werden. Nur auf diesem Wege kann ein Wandel herbeigeführt werden. Nur so kann die Grundlage unserer Ernährung vor wilden, zerstörenden Zugriffen einzelner gesichert und können große Vermögenswerte der Allgemeinheit gerettet werden. Es ist allerhöchste Zeit, daß der Freistaat Thüringen sich endlich dazu aufrafft, die ihm noch führende Einrichtung einer einheitlichen staatlichen Ordnungs- und Sicherheitspolizei großen Stiles ins Leben zu rufen. Da Thüringen bisher sich um die Lösung der Ordnungspolizeifrage nicht genügend gekümmert hat, war es von der Reichsregierung bei der Verteilung der Kontingente aus der von der Entente zugestandenen Gesamtzahl an Ordnungspolizeikräften nicht berücksichtigt worden. Das Versäumte ist nun nachgeholt, ein entsprechendes Entgegenkommen des Reiches, das vier Fünftel der Kosten sowohl der Aufstellung als auch der laufenden Unterhaltung der Ordnungspolizei Thüringens übernimmt, ist erzielt worden. Der Staatsrat von Thüringen hat die thüringischen Wünsche beim Reiche gerade in zwölfter Stunde noch angemeldet. Selbstverständlich wird der Landtag für Thüringen über die Maßnahmen des Staatsrates das entscheidende Wort noch zu sprechen haben.

Eine weitere Hinausschiebung der Ordnungspolizeifrage für Thüringen war nun, wie schon aus dem bisher Gesagten hervorgeht, nicht möglich und so handelte es sich u. a. zunächst auch darum, möglichst schnell eine geeignete fachmännische Kraft für die Gründung. Organisation und Leitung des neuen staatlichen Polizeikörpers zu finden. In Thüringen war eine solche Kraft, der die Lösung der großen, ungemein schwierigen  Aufgabe, die sehr viel Takt und Geschick erfordert, anvertraut werden konnte, nicht vorhanden. Sie mußte daher auswärts gesucht werden. Die Wahl des Staatsrats von Thüringen bezw. der zur Vorbereitung der Ordnungspolizeifrage bevollmächtigten Abteilung des Innern fiel auf einen Mann, der auf dem Gebiete des Sicherheitswesens als Autorität zu gelten hat, nämlich auf den Major Müller-Brandenburg in Neustrelitz, den Gründer und bisherigen Leiter der Staatsgendarmerie und Chef des Sicherheitswesens in Mecklenburg-Strelitz. Die Reichsregierung, die in dieser wichtigen Personenfrage gehört werden mußte, hat die schriftliche Erklärung abgegeben, daß gegen die Wahl des Majors Müller-Brandenburg zum thüringischen Polizeileiter kein Bedenken vorliegt und keinerlei Einwendung erhoben wird. Die von diesem Manne geschaffenen polizeilichen Einrichtungen werden von den zuständigen Stellen im Reiche als mustergültig anerkannt. Bezeichnenderweise haben sich auch die Vertrauensmänner der Gendarmerie der Thüringer Staaten, als sie vor wenigen Tagen in Weimar ihre Wünsche bezüglich der Neuorganisation des gesamten Polizeiwesens vortrugen, auf ein Gutachten des Mahners Müller-Brandenburg berufen und dieses in einer Abschrift dem Staatsrat von Thüringen überreicht. Müller-Brandenburg wird daher zweifellos der gegebene Mann sein später eine völlig einheitliche Ausgestaltung des gesamten thüringischen Polizeiwesens in verständnisvoller Berücksichtigung der Wünsche der Beamtenschaft und in Anlehnung an die jetzt in Preußen und im Reiche in Ausführung des Polizeiwesens zu verwirklichen. In erster Linie freilich muß nun der staatliche Ordnungspolizeikörper für Thüringen aufgestellt werden. Major Müller-Brandenburg hat seinen Dienst bereits angetreten.

Möchten alle Teile der Bevölkerung Thüringens in Stadt und Land der neuen staatlichen Ordnungspolizei und ihrem Leiter mit Verständnis und Vertrauen entgegenkommen.

Quelle:

Weimarische Landes-Zeitung vom 18.9.1920

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Sicherheitspolizei_(Weimarer_Republik)#/media/Datei:J%C3%A4gerpatrouille._Gem%C3%A4lde_von_Richard_Kn%C3%B6tel_um_1910.jpg