100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Soziale Demokratie durch soziales Wirtschaften

Der Idee der Diktatur des Proletariats möchte dieser Artikel der Weimarischen Landes-Zeitung die Idee einer industriellen Demokratie entgegensetzen. Die russischen Verhältnisse könnten nicht auf Deutschland übertragen werden, so der Autor Kuno Tiemann. Stattdessen müsse die junge Republik dem Klassenkampf hinter sich lassen und die Kooperation von Arbeit und Kapital verwirklichen.

Lokomotivfabrik Borsig in Berlin

Der Weg zur nationalen, industriellen und sozialen Demokratie.

Von Legationssekretär a. D. Kuno Tiemann.

Ein Irrtum der deutschen Sozialdemokratie liegt zweifelsohne in dem unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem Begriff national und ihren internationalistischen Ideologien. Gewiß findet jene ethische Idee, die an einen übernationalen Menschheitsgedanken geknüpft ist, gerade dadurch bei den proletarischen Massen ein willkommenes Echo, daß dieser Idee im realen Leben des Proletariers „die Angst des Irdischen“ jenseits von staatlichen, nationalen und völkischen Grenzlinien gegenübersteht, aber – wie die Erfahrung jetzt tausendfältig gezeigt hat – scheint doch hier die einfachen Tatsachen im Raume immer wieder und wieder aufgehoben zu werden. So muß doch schließlich zugegeben werden, daß die Eigenschaft „deutsch“ als wesentlicher Bestandteil unseres Lebens so wenig aus unserem Leben als „Deutscher“ wegzuleugnen ist, als der Umstand, daß wir als Menschen zwei Beine und nicht vier haben. Die deutsche Sozialdemokratie setzte sich aber darin, daß sie an Stelle eines nationalen Staates von vornherein die internationale Orientierung wählte, die sich keineswegs mit notwendiger Konsequenz aus den sozialdemokratischen Grundsätzen ergibt, in Gegensatz zu allen ausländischen sozialdemokratischen Parteien, die alle, ohne Ausnahme, eine nationale Note aufweisen. Ein klassisches Beispiel dafür bilden ja heute die Sozialdemokraten der Tschecho-Slowakei, die in den extremsten Formen einer sozialdemokratischen Weltanschauung außerordentlich scharfen nationalistischen Tendenzen huldigen.

Nun ist heute der deutschen proletarischen Revolution ohne Zweifel eine Schranke gesetzt, die allein „in nationalen Spielraume“ liegt. Das Zeichen der Internationale und die Phrase vom freien Menschentum helfen hier nichts mehr.

Die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen für eine proletarische Revolution sind völlig andere bei uns als in Rußland. Und deshalb müssen auch die Formen, in denen sich eine solche Revolution vollzieht, bei uns andere sein als dort. Weiter ist aber die Aktionsfreiheit der proletarischen Revolution bei uns aufs stärkste gehemmt, durch die dem Kapitalismus eigentümliche wirtschaftliche Form jener Länder, die uns besiegt haben, und die über jene notwendigen Lebensmittel und Rohstoffe verfügen, ohne die wir einfach nicht existieren können.

Infolge der politischen Passivität der Arbeiterschaft, aber ganz besonders infolge der völligen Unkenntnis jener äußerst komplizierten wirtschaftlichen Probleme, die heute mit dem Schlagwort „Sozialisierung“ schnell abgetan zu werden pflegen, ist in ökonomischer Hinsicht bisher verzweifelt wenig geschehen. Noch herrscht bei uns unerschüttert die rein kapitalistische Produktionsweise, und demzufolge muß der Proletarier noch immer in engster Schicksalsgemeinschaft mit seiner Bourgeoisie leben; denn wie die Verhältnisse heute liegen, würde der Untergang der deutschen Bourgeoisie auch den völligen Ruin des deutschen Proletariats bedeuten.

Hocharbeiter in Königs Wusterhausen, 1930

Der überstaatliche Organisationsgedanke, der auf wirtschaftlichem Gebiete im internationalen Gemeinschaftsbewußtsein wurzelt, weist von der Innen- zur Außenpolitik. Wir werden eine aktive Außenpolitik nur treiben können, wenn wir uns auf eine gesunde, nationale, wirtschaftliche Politik stützen. Innerstaatliche wirtschaftliche Organisation und europäische Wirtschaftsgemeinschaft werden die Etappen bilden müssen, die vielleicht zu einer Art sozialistischen Güteraustausches auf weltwirtschaftlicher Grundlage führen. Niemals aber werden diese praktischen Ziele einer planvollen Produktionspolitik und Sozialpolitik, durch die das Proletariats der Krisenhaftigkeit kapitalistischer Wirtschaftsverhältnisse enthoben werden soll, durch eine Diktatur des Proletariats zu erreichen sein. Die Umwälzung der Gesellschaftsordnung durch Gewalt wird nie und nimmer die objektive, gesellschaftliche Voraussetzung zu einem sozialistischen Aufbau erfüllen, wie wir ihn oben angedeutet haben. Hierzu kann nur eine stetige, langsame, zielbewußte Entwicklung im Menschen selbst und im Verhältnis der Menschen zur ökonomischen Gestaltung führen. Eine solche wirkliche, soziale Revolution kann sich lediglich durch die allmähliche, planmäßige systematische Umgestaltung der kapitalistischen Organisationsformen zu industriellen Selbstverwaltungskörpern vollziehen, die schließlich die Voraussetzung zu jedweder Sozialisierung bilden, genau wie jene Arbeitsgemeinschaften eine notwendige Etappe zu einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung darstellen werden.

Aus diesem Grunde müßten alle Führer des Proletariats, die auf dem Boden der Demokratie stehen, soviel Entschlußkraft und politische Klarheit aufbringen, daß sie endlich davon abstehen, Utopien nachzujagen aus Furcht, ihre Wähler sonst zu enttäuschen und diese ins kommunistische Lager abziehen zu sehen. Nur die Geschlossenheit der sich bisher befehdenden sozialistischen Parteien kann eine industrielle Demokratie durchsetzen. Nur eine proletarische Klassenpolitik, die den Kompromiß zwischen den sozialistischen Grundsätzen und jener erst allmählich umzubildenden Wirtschaftsform von heute anstrebt, kann jenen Eckstein zu einem Wiederaufbau unseres politischen und wirtschaftlichen Lebens bilden. Nur eine solche Politik wird dazu beitragen, das deutsche Volk allmählich von den Ideen überkommener Institutionen einer Obrigkeitsregierung, mit der das Volk im Grunde noch fest verwurzelt ist, zu befreien.

Solange aber die proletarischen Führer diese Entwicklungs- und Lebensbedingungen des deutschen Produktionsprozesses nicht erkennen wollen, solange werden die treibenden Kräfte des Proletariats einer Maschine gleichen, die sich im Leerlauf langsam zuschanden arbeitet.

Die gesteigerte Tüchtigkeit des Einzelnen und seine restlose seelische Hingabe an den Arbeitszweck, Qualitäten, die lediglich durch die Selbsttätigkeit und Selbsterziehung der Masse erzielt werden können, sind allein imstande, das Ganze zu retten. Diese Steigerung der Produktivität hängt nicht allein von einer verbesserten Organisation im Arbeitsprozeß ab, sondern in der Hauptsache von dem eminent wichtigen psychologischen Moment des immer mehr und mehr geweckten Interesses des Arbeiters an der Arbeit.

Nicht der Klassenkampf, sondern das gemeinsame Bewußtsein, geschlossen den deutschen wirtschaftlichen Produktionsprozeß zu verwalten und mitverantwortlich für ihn zu sein, wird Deutschland, d. h. das deutsche Proletariat und die deutsche Bourgeoisie, wieder frei und stark machen.

Möchten doch endlich jene Führer des Proletariats, von deren Einsicht so unendlich viel abhängt, sich jenes Spruches erinnern, daß eine Reise von tausend Meilen stets mit einem Schritt beginnt. Erst dann werden die Gefahren im innerstaatlichen Leben Deutschlands wirklich gebannt sein, erst dann können wir gemeinsam an den Wiederaufbau gehen, erst dann wird auch in unseren Aemtern und Behörden der Glauben an eine aus individualistischer Wurzel entsprungene Demokratie weichen müssen. Dann erst können wir als ein Volk freier Persönlichkeiten jenes Ansehens und Vertrauens wieder teilhaftig werden, das das gesamte Ausland einen wirklichen neuen, demokratischen Deutschland entgegenbringen muß.

Quelle:

Weimarische Landes-Zeitung vom 29.9.1920

 

Bilder:

https://de.wikipedia.org/wiki/Industrielle_Revolution_in_Deutschland#/media/Datei:Maschinenbau-Anstalt_Borsig,_Berlin_Chausseestra%C3%9Fe,_1847,_Karl_Eduard_Biermann.jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeiter#/media/Datei:Bundesarchiv_Bild_102-10678,_K%C3%B6nigswusterhausen,_Arbeiter_auf_Sendeturm.jpg