100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Staatliche Fürsorgegedanken im Jenaer Volkshaus

Neben den Diskussionen um die wirtschaftliche und politische Zukunft Deutschlands wird auch die Erkenntnis gewonnen, dass all dies ohne ein stabiles soziales Gefüge nur wenig bringt. Ende September 1920 findet sodann eine ausführliche und inhaltlich breit aufgestellte Tagung im Jenaer Volkshaus statt, welche sich der Frage nach der Aufgabe und Rolle des Staates im Fürsorgesystem stellt und dessen Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft und ihren Zusammenhalt zum Thema hat.

Das Volkshaus in Jena

Die Fürsorgetagungen in Jena.

Ausschuß für Gefährdetenfürsorge.

In der Reihe der in Jena abgehaltenen Fürsorgetagungen gehört auch die des Ausschusses für Gefährdeten-Fürsorge, die am 25. September im Volkshaus in Anwesenheit von Vertretern maßgebende Körperschaften des Reiches und Preußens stattfand. Handelt es sich doch gerade hier um einen für die Volksgesundheit und damit für die Wiederherstellung unserer Volkskraft und den Wiederaufbau unseres Wirtschaftslebens so überaus wichtigen Gegenstand.

Zunächst berichtete Frau Dr. Lauer-Köln, Mitglied der preußischen Landesversammlung, über die Stellung des preußischen Landtages zu den einzelnen Problemen der Sittlichkeitsgesetzgebung, in der sich an ihren Bericht anschließenden Aussprache wurde der lokale Zusammenschluß weiterer Volkskreise zwecks Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Anstand und Sitte empfohlen. Es wurde ferner darauf hingewiesen, daß man der lebenshungrigen Jugend Ideale zeigen und ihre Kraft so in die richtigen Wege leiten müsse. Lebhafte Meinungsverschiedenheit herrsche darüber, ob ein Gesetz zur Verhütung der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten, die bei den übrigen schweren Infektionskrankheiten schon lange durchgeführt und auch für Geschlechtskrankheiten in einem der deutschen Länder vor kurzem eingeführte Anzeigepflicht des Arztes, aufzunehmen sei. Einstimmigkeit dagegen herrsche sowohl darüber, daß die Vorlegung von Gesundheitszeugnissen bei Eingehung einer Ehe verlangt werden müsse, als auch über die Notwendigkeit der Angliederung dieses Zweiges der Fürsorge an das Wohlfahrtsamt.

Den zweiten Punkt der Tagung bildete die Beratung über ein dem Reichstag vorzulegendes Verwahrungsgesetz, d.h. eines Gesetzes, wonach unter gewissen Voraussetzung die dauernde, oder zeitliche Unterbringung und Überwachung dem Fürsorgezöglingsalter entwachsender Fürsorgefrage, sowie sonstiger wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigter Personen zu beschließen und Mittel hierfür bereitzustellen seien. Frau Amtsgerichtsrat Neuhaus, M.d.R., begründete die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes nach einem Bericht aus ihrer eigenen Tätigkeit als Vormund solcher Psychopathen, durch den sie die Mühsal und doch Erfolgslosigkeit ihrer Arbeit infolge Mangels eines solchen Gesetzes nachwies, da heute die bei zweckmäßiger Behandlung in der Bewahrungsanstalt sich Gutführenden und damit geheilt Erscheinenden aus Sparsamkeitsgründen aus der Anstalt entlassen werden, bis sie alsdann durch Nichtbewährung im freien Erwerbs- und Wirtschaftsleben ihre Anstaltsbedürftigkeit wieder beweisen, abermals aufgenommen werden müssen, und so fort in beständigem Kreislauf. – In der sich an den Bericht von Magistratssyndikus Dr. Maier-Frankfurt a. M. über die einzelnen Punkte des im Entwurf bereits vorliegenden Gesetzes sich anschließenden Ansprache ergab sich Einstimmigkeit bezüglich der Notwendigkeit des geforderten Verwahrungsgesetzes, abweichende Meinungen lediglich über Einzelheiten. Es wurde daher beschlossen, den vorliegenden Entwurf nach nochmaliger Durchsicht dem Reichsministerium des Innern baldigst zu unterbrechen.

Auch bezüglich des 3. Punktes der Tagung, der Frage der weiblichen Bedienung in Gast- und Schankwirtschaften, kam man zu bestimmten Ergebnissen. Die Referentin Frau Gertrud Quard – Frankfurt a.M., wandte sich gegen einzelne Punkte der vorliegenden Anordnung Preußens, die auf Grund des am 15. Januar 1920 erlassenen Reichsgesetzes „über weibliche Angestellte in Gast- und Schankwirtschaften“ in Kürze ergehen soll, insbesondere gegen die in verschiedenen Fällen vorgesehene Mitwirkung der Polizei, die auf Notfälle beschränkt und für die Überwachung der Gast- und Schankwirtschaften unbedingt ausgeschaltet werden müsse. Das Ergebnis der Diskussion entspricht im wesentlichen den Abänderungsvorschlägen und Forderungen der Referentin, die der preußische Landesversammlung unterbreitet werden sollen und für deren Beachtung die anwesenden Mitglieder der maßgebenden Körperschaften nachdrücklich einzusetzen versprochen.

Ob der Ausschuss mit dem Ergebnis seiner Tagung tatsächlich zufrieden sein darf, wird sich erst aus der Stellungnahme der maßgebenden Körperschaften selbst zu den gestellten Anträgen ergeben.

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 27.9.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273699/JVB_19200927_227_167758667_B1_001.tif

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Volkshaus_Jena#/media/Datei:Volkshaus_Jena_I.JPG