100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Streiken oder nicht streiken

Nach der Zerstörung einer für die Entente bestimmten Ladung Munition durch deutsche Eisenbahner lassen die diplomatischen Verwicklungen nicht auf sich warten. Die Eisenbahner wollten hiermit gegen die Rüstungsauflagen des Versailler Vertrages protestieren, aber selbst die rechtsnationalistische Jenaische Zeitung hat kein Verständnis für die Aktion. Das Blatt fürchtet die Möglichkeit eines Eisenbahnerstreiks und fordert – ironischerweise im Sinne des französischen „Erbfeindes“ – eine harte Bestrafung der Unruhestifter.

Streik (von Stanislaw Lentz, 1910)

Zum Erfurter Zwischenfall.

An sämtliche Arbeiter und Beamte des Erfurter Eisenbahn-Direktionsbezirks.

Am 4. ds. Mts. wurde auf dem Bahnhof zu Erfurt ein der französischen Regierung gehöriger Wagen mit Munition vernichtet. Arbeiter der Güterabfertigung unter Mitwirkung von solchen der Betriebswerkstatt haben sich bedauerlicherweise zu dieser folgenschweren Handlung hinreißen lassen. Die Entente fordert strenge Bestrafung der Schuldigen. Mehrere offenkundig beteiligte Arbeiter sind bereits entlassen, einer ist gerichtlich verhaftet worden. Die französische Regierung wird sich mit einer Bestrafung dieser wenigen Täter nicht zufriedengeben, denn es steht fest, daß eine große Anzahl von Arbeitern bei der Tat mitgewirkt hat, die durch die schwebende Untersuchung voraussichtlich noch ermittelt werden.

Niemand kann die Täter vor der Bestrafung schützen. Die französische Regierung wird nicht anerkennen, daß die deutschen Arbeiter berechtigt seien, sich an französischem Eigentum zu vergreifen, sie wird auch als Entschuldigungsgrund etwaigen guten Glauben der Beschuldigten nicht gelten lassen. Selbst wenn die ganze deutsche Arbeiterschaft solidarisch die Täter in Schutz nehmen wollte, so würde sie diese doch vor der Bestrafung nicht retten können. Mit welcher schonungslosen Strenge die französische Regierung alle Vergehungen nicht nur gegen ihre inländischen Vertreter, sondern auch gegen französisches Eigentum verfolgt, ist bekannt. Die Machtmittel dazu stehen ihr unbeschränkt zu Gebote. Die Erfurter Eisenbahnarbeiter haben durch ihre leichtfertige Handlungsweise einen schweren internationalen Konflikt hervorgerufen, der nur durch die Bestrafung der Schuldigen seine Lösung finden kann.

Wir haben das Vertrauen zu der Einsicht der Eisenbahner des Direktionsbezirks, daß sie sich die Verhältnisse klar machen und die Lage nicht noch durch weitere Unbesonnenheiten verschlimmern.

Am 11. ds. Mts. haben Eisenbahnarbeiter aus Erfurt einen Demonstrationszug vor das Gerichtsgebäude und die Wohnung des Ober-Staatsanwalts unternommen, um die Freilassung des verhafteten Rädelsführers zu fordern. Glücklicherweise ist es hierbei zu Uebergriffen nicht gekommen. Der Vorfall gibt uns aber Veranlassung, die ganze Eisenbahnerschaft des Bezirks vor weiteren Ungesetzlichkeiten zu warnen. Jeder Versuch, in den Gang der Rechtsprechung einzugreifen, würde erfolglos sein und nur weiteres Elend über eine große Zahl von Eisenbahnerfamilien bringen.

Es ist uns bekannt, daß gewissenlose Hetzer, welche damit politische Ziele verfolgen, den Vorfall ausnutzen möchten, um die Eisenbahnerschaft gegen die Verwaltung und die Staatsregierung aufzuhetzen und zu einer Machtprobe aufzupeitschen. Eine solche Machtprobe könnte aber nur zum Nachteil der Eisenbahner ausfallen, zumal der Kampf sich in letzter Linie gegen die Sühneforderung der französischen Regierung richten würde, und sein Ausgang daher nicht zweifelhaft sein kann. Angesichts dieser Umstände könnte eine Milderung der schweren Folgen für die Mehrheit der Täter nur dadurch erreicht werden, daß die Haupträdelsführer, welche die unheilvolle Tat angestiftet und ihre Kollegen ins Unglück gestürzt haben, rücksichtslos angegeben und der Bestrafung zugeführt werden. Es kann alsdann unterschieden werden, wer die eigentlichen Urheber der Tat gewesen sind, und wer sich nur an ihrer Ausführung beteiligt hat.

Anzeichen sprechen dafür, daß auch andere Vorwände gesucht werden, die Eisenbahnerschaft in Unruhe zu versetzen. Es wird behauptet, die Verwaltung gehe damit um, den Achtstundentag zu beseitigen. Jeder muß wissen, daß dies überhaupt nur durch ein Gesetz möglich wäre. Das törichte Gerücht ist lediglich aus der mißverständlichen Auslegung einer Verfügung über den Dienst der Schrankenwärter hervorgegangen. Die Verwaltung wird hierüber durch die Betriebsräte weitere Aufklärung geben.

Erfurt, 14. Sept. 1920.

Eisenbahndirektion.

Wilhelm.

-sd. Berlin, 15. Sept. Der Deutsche Eisenbahnerbund hat gestern eine Streikparole für die deutschen Eisenbahner anläßlich der Vorgänge in den Berliner und Erfurter Werkstätten abgelehnt. Der Erlaß des Eisenbahnministers Groener gegen eigenmächtige Durchsuchung der Gütertransporte wird streng durchgeführt. Es sind bis jetzt 17 Entlassungen von Eisenbahnern ausgesprochen worden.

Die Tagung der deutschen Eisenbahner.

TU. Dresden, 14. Sept. Auf der gestern hier begonnenen außerordentlichen Generalversammlung des Deutschen Eisenbahnerverbandes erklärte der Vorsitzende Scheffel-Berlin bei Erörterung des wilden Streiks in Berlin und des Frankfurter Generalstreiks, daß die Hetzerzentrale in Frankfurt a. M. sei, in deren Agitationsmethoden deutlich politische Ziele erkennbar wären. Weiterhin beschäftigte er sich mit den Munitions- und Truppentransporten der Entente. Er behauptete, daß die Regierung nicht mit dem nötigen Ernst vorgegangen sei und die Arbeiter ihre nationale Pflicht besser als die Regierung getan hätten. Die Arbeiter seien über das Ziel hinausgeschossen. Die internationalen Beziehungen zu den anderen Ländern würden sehr gepflegt. Man sei über die Verhältnisse im Auslande sehr gut unterrichtet. Der Deutsche Eisenbahnerverband habe sich an die Internationale Transportarbeiter-Föderation angeschlossen und den Mitgliedsbeitrag von 40.000 Mark bereits abgesandt.

Quelle:

Jenaische Zeitung vom 15.9.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00277666/JZ_Jenaische_Zeitung_169419428_1920_09_0079.tif

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Streik#/media/Datei:Stanis%C5%82aw_Lentz,_Strajk.jpg