Wie lange noch werdet ihr unsere Geduld missbrauchen?
Die rechtsnationalistische Jenaische Zeitung sieht angesichts der nach wie vor nicht erfolgten Regierungsbildung das eben erst gegründete Thüringen am Abgrund. Wenn die mit der Moskauer Internationale sympathisierende USPD an der Regierung beteiligt werde, komme großes Unheil über das Land. Nur eine Rechtskoalition könne das Land vor dem Auseinanderbrechen retten, so die etwas übertriebene Warnung.
Das Schicksal Thüringens.
Wenn einer von den Modernen auf die Idee kommt, die Politik futuristisch darzustellen, dann kann er sich Thüringen zum Modell nehmen. In der Mitte ein großer schwarzer Klecks, ein leerer Raum, ein toter Punkt, das ist die neue Zentralgewalt, die „Errungenschaft der Revolution“, das Erzeugnis der demokratischen Verfassung, und ringsherum allenthalben mittelpunktfliehende groteske Gebilde, ein in seinen Richtungen sich kreuzendes, stoßendes, auseinanderstrebendes Chaos: so etwa sieht – in das Futuristische übertragen – das geeinte Thüringen aus. Der perverse Freund des Verworrenen hat seine Freude daran, den normalen Beschauer aber beschleicht das gleiche Grauen, wie beim Anblick jener modernen Gemälde, die wie Augenblicksaufnahmen von Explosionen wirken.
Das Scheitern der Regierungsbildung hat dem Faß den Boden ausgeschlagen: die übergeordnete Zentralgewalt fehlt, da wird in den Einzelstaaten lustig nach der alten Weise weitergewurschtelt. Gotha und Reuß an der Spitze. Während das Reich die allgemeine Amnestie für alle hochverräterischen Straftaten erläßt und damit die gegenseitigen Konten der Putsche von rechts und von links endlich untereinander ausgleicht, hat Reuß nur das linksseitige Konto getilgt und kühlt seinen Rachedurst an den Kappisten: das berüchtigte Disziplinargesetz wird mit aller Energie durchgeführt, der Warnungsruf der bürgerlichen Parteien im Volksrat verhallt, „es rast der See und will sein Opfer haben“. Ein Stückchen weiter im Thüringischen Ländchen sieht’s gerade umgekehrt aus: in Gotha fordern die Unabhängigen ungestüm eine Amnestie – kein Mensch weiß eigentlich recht, für wen – und benutzen die Ablehnung, um die Landesversammlung zu sprengen. Sie legen ihre Mandate nieder und die Sachverständigen zerbrechen sich den Kopf, ob das nun verbleibende Rumpfparlament eigentlich beschlußfähig ist oder nicht. Und trotz alledem schaut der Staatsrat von Thüringen in Gemütsruhe zu und beweist durch Veröffentlichung seiner 64 Punkte umfassenden Tagesordnung, daß er keine Zeit hat, sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Quousque tandem, Catalina?
Aber was wird auf diese Weise aus dem unglücklichen Thüringen? Als nach dem ersten mißglückten Versuch der Landtag vertagt wurde, da glaubten die Unverbesserlichen, daß im Herbst alles glatt gehen würde. Wenn der richtige Bürokrat mit einer schwierigen Frage nicht gleich fertig wird, dann beschließt er in das Aktenstück: „nach drei Monaten wieder vor“. Der nach Ablauf dieser Frist unfehlbar folgende Beschluß lautet: „nach 6 Monaten wieder vor“ und immer so weiter, bis endlich kein Mensch mehr auf die Idee kommt, an der geheiligten Tradition dieses Beschlusses etwas zu ändern und etwa gar in der Sache selbst zu entscheiden. So wird es auch mit der Regierungsbildung in Thüringen gehen, der Staatsrat regiert schlecht und recht weiter und wird schließlich gewohnheitsrechtlicher Bestandteil der Landesverfassung.
Bis jetzt berechtigt noch nichts zu der Annahme, daß die nächste Tagung eine bessere Lösung bringt. Bei den Unabhängigen spukt zweifellos der Geist von Moskau, die dritte Internationale.
Eine Landeskonferenz in Weimar hat die Haltung der Landtagsfraktion gebilligt und auch in Zukunft werden die Unabhängigen sich nur dann an der Regierung beteiligen, wenn diese sich zur Rätediktatur bekennt. Inzwischen wird sich ja vielleicht auch entscheiden, ob die Thüringer USPD. sich dem kommunistischen Dalai Lama Lenin anschließt und ob wir auf diese Weise auch in Weimar einen Hauch bolschewistischen Geistes verspüren. Es wäre unter Umständen noch nicht mal das Schlimmste. Viel Unheil könnte dieser für deutsche Gemüter auf die Dauer unmögliche Kommunismus kaum anrichten, aber er würde vielleicht die alte Sozialdemokratie zur Vernunft bringen und vom Schlepptau ihrer radikalen Genossen losreißen. Vielleicht hören wir dann endlich von dieser Seite nicht mehr das „Niemals“, das uns von dem verflossenen Reichskanzler Müller her schon genugsam bekannt ist. Freilich haben inzwischen durch die Abstimmung im Landtage die Mehrheitssozialisten die Gewißheit erhalten, daß die Demokraten eine rein bürgerliche Regierung nicht mitmachen. Dadurch wird naturgemäß ihre Stellung wesentlich gefestigt und sie können getrost aufs neue va banque spielen: Denn, wenn auch keine sozialistische Regierung herauskommt, dann erscheint schlimmstenfalls das Stehmännchen „Staatsrat“ wieder auf der Bildfläche. Aus dem Grunde ist auch die Haltung der Demokraten nicht recht folgerichtig und verständlich. Ihr Ziel ist, wie in ihrer Presse immer wieder betont wird, „unter allen Umständen eine rein sozialistische Regierung zu verhindern“, und dieses Ziel suchen sie dadurch zu erreichen, daß sie die reinste sozialistische Regierung, die man sich denken kann, am Ruder belassen. Hätten sie von Anfang an den Sozialdemokraten erklärt: „Wenn durch Eure unbegründete Weigerung die Koalitionsregierung scheitert, dann treten wir für eine bürgerliche Regierung ein“, so würden sich höchstwahrscheinlich die Mehrheitssozialisten ihr Vabanque-Spiel sehr reiflich überlegt haben. Im Reich sollen sie doch jetzt schon recht lebhaft bedauern, daß sie sich aus der Regierung haben ausschalten lassen, nachdem sie gesehen, daß auch von den neuen Männern keiner mit reaktionärer Stirne durch die sozialistischen Wände will. Aber von den Mehrheitssozialisten kommt sicher das Heil nicht. Denn hier regiert nicht Vernunft und gerechtes Ermessen, nicht Verantwortlichkeitsgefühl und demokratischer Geist, sondern nur die Rücksicht auf die Wählermasse und Wahlerfolgtaktik. Denn wie verträgt es sich – um nur diese eine Frage aufzuwerfen – mit dem demokratischen Grundsatz der Gleichberechtigung aller Staatsbürger, daß die eine Hälfte des Volkes als nicht regierungsfähig behandelt wird? § 3 der Thüringer Verfassung lautet: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“, nach der Auffassung der Sozialdemokraten aber offenbar nur von dem Volke, das sozialdemokratisch gesinnt ist. Das hätte man dann aber in die Verfassung hineinschreiben sollen, denn bisher war in Thüringen auch die andere Hälfte der anmaßenden Ansicht, daß sie mit zum Volke gehörte. Wozu gibt man dann solchem Volke überhaupt noch das Wahlrecht, wenn es dann doch entrechtet werden soll? Oder, wenn man das nicht will, dann schreibe man in die Verfassung hinein, daß jede Partei Anspruch darauf habe, in der Regierung im Verhältnis zu ihrer Wählerzahl vertreten zu sein. Dann kann wenigstens keine Partei von vornherein erklären, daß sie sich mit einer anderen, die zu verfassungsmäßiger Regierung bereit ist, nicht an den Regierungstisch setze, und es bleibt ja den Unabhängigen unbenommen, von diesem Rechte keinen Gebrauch zu machen, wenn sie sich von einer verfassungsmäßigen Regierung für Thüringen kein Heil versprechen. Ist erst mal die Regierung in dieser Weise zustande gekommen, dann wird sie schon selbst die mittlere Linie im Parallelogramm der Kräfte finden. Warum geht es denn im Reiche? Man hört von dorther nichts über reaktionären Kurs.
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Alles in allem: Beharren die Mehrheitssozialisten und die Demokraten auf ihrem bisherigen Standpunkt, so sind die Aussichten trostlos. Der Rohbau Thüringen wird bald zur Ruine, Coburg fühlt sich glücklich in Bayerns gesichertem Schoße und Erfurt dankt allen guten Geistern, daß es sich nicht auf den großthüringischen Leim hat locken lassen, die Stimmen derer mehren sich, die eine Rettung aus diesem verworrenen Knäuel nur durch einen Anschluß an Preußen erblicken. Noch einmal wird – vielleicht schon sehr bald – die Entscheidung über Thüringens Schicksal in die Hand der Demokraten gelegt, möchten sie sich dieser Verantwortung bewußt sein und die Kraft zu dem einzig möglichen Entschlusse finden.
Quelle:
Jenaische Zeitung vom 14.9.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00277666/JZ_Jenaische_Zeitung_169419428_1920_09_0073.tif
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Quo_usque_tandem_abutere,_Catilina,_patientia_nostra%3F#/media/Datei:Cicer%C3%B3n_denuncia_a_Catilina,_por_Cesare_Maccari.jpg