Wir fordern Satisfaktion!
Nach dem zweiten Aufstand in Oberschlesien kochen die nationalistischen Gefühle weiter hoch. In Breslau wird als Rache für deren weiche Haltung gegen die Aufständischen das französische Konsulat verwüstet. Der Außenminister und spätere Präsident der Republik Alexandre Millerand ordnet materielle und symbolische Sühneakte gegen Deutschland an. Das Jenaer Volksblatt verurteilt das Wirken der deutschen, polnischen und französischen Nationalisten und sorgt sich um die internationalen Beziehungen.
Die Sühne für Breslau.
Der Berliner Mitarbeiter der französischen Republik, Herr Charles Laurent, hat am Dienstag vormittag dem Außenminister, Dr. Simons, die Forderungen der französischen Regierung überreicht, die auch eine Art „Wiedergutmachung“ für den materiellen und moralischen Schaden bezwecken sollen, den der Ueberfall auf das französische Konsulat in Breslau angerichtet hat. Nach dem bedauerlichen Vorfall anläßlich der Feier des 14. Juli vor der französischen Botschaft in Berlin wirkt die Wiederholung eines völkerrechtswidrigen Uebergriffs um so peinlicher, als letzten Endes die deutsche Regierung und damit das Ansehen der deutschen Republik aufs Neue kompromitiert wird. Mit einem gewissen Recht hebt die französische Note hervor, daß eine Reihe feindseliger Kundgebungen und Angriffe gegen die zivilen und militärischen Vertreter Frankreichs darauf hinzuweisen scheinen, daß gewisse Elemente in Deutschland es auf eine Herausforderung abgesehen haben. Mag auch der überwiegend größte Teil des deutschen Volkes einer Herausforderung fernstehen, so ist doch nicht zu leugnen, daß die sich mehrenden Zeichen der Verhetzung auf eine bestimmte Quelle zurückzuführen sind, die aus einer Verlegenheit der Regierung Nutzen zu ziehen hofft. Es ist dieselbe Quelle, die schon vor dem Kriege Ueberheblichkeit für Selbstbewußtsein und forsches Auftreten für Vaterlandsliebe gehalten hat. Dieselbe Kurzsichtigkeit und mangelnde Rücksichtnahme auf andere als deutsche Gefühle hat es auch jetzt wieder bewirkt, daß das deutsche Volk die Narrheiten einer Clique von Draufgängern mit seiner Ruhe und seiner Zukunft zu bezahlen hat. Bei einiger Ueberlegung hätte vorausgesehen werden können, welche Folgen sich aus einer Zerstörung des französischen Konsulates, der Amtsakten und anderen Ungesetzlichkeiten ergeben würden. Gewiß trägt auch das Verhalten der Franzosen in Oberschlesien, ihre nur schlecht verhüllte Parteilichkeit für alles, was polnisch heißt, und ihr anmaßendes Auftreten, das nicht nur im oberschlesischen Abstimmungsgebiet böses Blut gemacht hat, einen Teil der Schuld an der Vergiftung jener Atmosphäre, die die französische Not weniger aufrichtig als klangvoll zur Beruhigung der Gemüter und zur Herstellung friedlicher Beziehungen als erforderlich bezeichnet. Unleugbar ist aber, daß es eine Torheit und unverantwortlicher Leichtsinn ist, der Regierung bei dem Bestreben, halbwegs vertrauensvolle Beziehungen zu den Feinden von gestern herzustellen, in den Arm zu fallen. Angesichts der schwerwiegenden Forderungen, die, abgesehen von einer Schadensersatzverpflichtung in Natural- und Geldleistung eine Reihe von demütigenden Maßnahmen mehr symbolischer Art, wie Flaggengruß und Sühneparade eines militärischen Aufgebots vorsehen, muß man sich wieder einmal fragen, ob jene typischen Vertreter deutscher Würde diesem Schlußeffekt ihres zweideutigen Patriotismus eine Verwirklichung ihrer Ideale erblicken. Auf einem andern Blatte steht freilich die Erwägung, ob es klug ist, wenn Herr Millerand durch eine Uebertreibung seiner Sühneforderungen vor den billigen Sühnegelüsten der Boulevardhelden seine Verbeugung macht. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen die Berufung auf den Willen der französischen Regierung, mit der deutschen Regierung „in einer Atmosphäre der Beruhigung und der Arbeit friedliche Beziehungen zu unterhalten.“ Mit dem Willen allein ist es nicht getan. Wäre es ihr ernstlich darum zu tun, dann hätte sie durch eine neutrale Politik in Oberschlesien und sonstwo, anstatt zu einer Beunruhigung der deutschfühlenden Bevölkerung beizutragen, wirklich Frieden und Vertrauen schaffen können. Durch ihr Abseitsstehen wo es heißt, berechtigte deutsche Ansprüche zu vertreten, und durch zu mindest wohlwollende Duldung zu Gunsten großpolnischer Propaganda, hat sie sehr oft Wind gesäet, der sich in Breslau zu einem Sturm ausgewachsen hat.
Quelle:
Jenaer Volksblatt vom 2.9.1920
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273678/JVB_19200902_206_167758667_B1_001.tif
Bild:
https://fr.wikipedia.org/wiki/Alexandre_Millerand#/media/Fichier:Clemenceau_Millerand_Kehl_1919.jpg