100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Wirtschafts- und Diplomatiefragen

Die letzten Monate des Jahres 1920 werden für Alexandre Etienne Millerand ganz bedeutende: Ab September 1920 wird er für knapp vier Jahre der Nachfolger von Paul Deschanel und damit Staatspräsident in Frankreich werden. Doch nicht nur diese Nachricht vermelden die Zeitungen an diesem Tag. Für die Deutschen geht es um Finanz- und Steuerprogramme und die bald anstehende Botschafterkonferenz.

Rudolf Heinze (1856-1928)

Annahme eines einheitlichen Reichsfinanzprogramms.

Beschlüsse des Reichskabinetts.

Berlin, 22. September. In der heutigen, vom Reichspräsidenten geleiteten Kabinettssitzung wurde ein einheitliches Finanzprogramm angenommen und Dr. Wirth hielt sein Rücktrittsgesuch nicht aufrecht. Alle Steuergesetze der Nationalversammlung sollen durchgeführt, die Stellung des Reichsfinanzministers im Kabinett soll gestärkt werden. Grundsätzlich sollen seine neuen Ausgaben und Beamtenstellen in den Etat 1921 eingesetzt, die Kriegswirtschaft abgebaut und die gleichen Zwecken dienenden Organisationen zusammengelegt werden. Die Beseitigung des Fehlbetrages bei Eisenbahn und Post von zusammen 18 Milliarden soll angestrebt werden. Der Reichswirtschaftsminister soll ein Gesetz über die Sozialisierung des Bergbaues vorlegen. Zeitungsmeldungen über einen von Dr. Simons auszuarbeiteten Plan für Oberschlesien sind unzutreffend.

Vizekanzler Dr. Heinze über die Lage.

Dresden, 22. September. Gestern abend gab Vizekanzler Reichsjustizminister Dr. Heinze vor dem Ortsverein der Deutschen Volkspartei einen Bericht über die politische Lage, wobei der u.a. sagte, er denke nicht daran, von seinem Posten zu scheiden, um etwa ein diplomatisches Amt zu übernehmen, das für ihn gewiß mancherlei Verlockendes habe. Seiner Meinung nach seien jetzt Ruhe und Stetigkeit in der Regierung das Haupterfordernis. Um etwaiger persönlicher Wünsche willen die Ruhe und Stetigkeit zu verletzen,  hieße, sich an den Interessen des Reiches und des Volkes versündigen, in seiner augenblicklichen Lage könne das deutsche Volk den fortgesetzten Wechsel in verantwortlichen Posten einfach nicht ertragen. Durch die dauernden Quertreibereien und Phantasien in Personalfragen werde in unglaublicher Weise die Nervenkraft der beteiligten Stellen verwüstet; sie müßten aufs allerbestimmteste zurückgewiesen werden. Auch die Beamten hätten schließlich ein Anrecht darauf, daß die Ressortchefs sich einarbeiten könnten. Er sei sein Kleber, aber er sei ebensowenig gewillt, ein einmal übernommenes Amt leichtfertig zu verlassen. Weiter betonte der Vizekanzler, daß sich die Männer der gegenwärtigen Reichsregierung gut aufeinander eingespielt hätten, und daß er mit dem besten Gewissen die Solidarität des Kabinettes vertreten könne. Er ging auf die wesentlichen politischen Gegenwartsfragen ein, wobei er eine Politik des heißen Herzens, aber auch des kühlen Kopfes als die für Deutschland allein richtige und mögliche bezeichnete.

Alexandre Millerand (1859-1943)

Millerands Kandidatur angenommen.

Genf, 22. September. Bei der heutigen Abstimmung der französischen Kammer und des Senats erhielt Millerand für seine Präsidentschaftskandidatur 528 Stimmen, 200 weniger als seinerzeit Deschanel. Da die Linke keinen Block bilden konnte, wird Millerand in Versailles der einzige Kandidat sein.

Die Einigkeit aller Deutschen unentbehrlich.

Amsterdam, 21. September. Das Organ der niederländischen Sozialdemokratischen Partei „Het Volk“ schreibt unter Hinweis darauf, daß der Friede mit Deutschland die Alliierten keineswegs zu Deutschlands Freunden gemacht habe: Die Einigkeit aller Deutschen sei unentbehrlich zur Bildung einer geschlossenen Friedensfront gegenüber der Entente.

Die deutsche Delegation für Brüssel.

Berlin, 22. September. Die deutsche Delegation für die Brüsseler Konferenz ist am Dienstag abend abgereist. Sie setzt sich zusammen aus Unterstaatssekretär Bergmann, dem Direktor der Diskontogesellschaft Urbig, dem Vizepräsidenten der Reichsbank v. Glasenapp, Staatssekretär Schröder vom Reichsfinanzministerium und einer Reihe von Sachverständigen.

Paris, 22. September. Nach einer Havasmeldung aus Brüssel rechnet man damit, daß die Finanzkonferenz etwa 14 Tage dauern wird.

General Henri Le Rond (1864-1949)

Die Botschafterkonferenz über Oberschlesien.

Paris, 22. September. Die Botschafterkonferenz nahm gestern nachmittag den Bericht des Generals Le Rond über die Ereignisse in Oberschlesien entgegen, der General machte ausführliche Darlegungen und übergab gleichgültig eine Reihe von Noten, die ihm von der deutschen Regierung zugegangen waren.

Der Schweizer Bundespräsident Motta über Minister Simons.

Bern, 20. September. Der Genfer Nationalrat Gottret veröffentlicht in der „Tribune de Geneve“ eine Unterredung, die er mit dem Bundespräsidenten Motta über dessen Eindrücke von Lloyd George, Giolitti, Simons, Millerand hatte. Unter anderem erklärte Bundespräsident Motta, der Minister des Äußern Simons habe auf ihn den Eindruck eines wirklich überlegenen Staatsmannes mit großzügigen liberalen Ideen gemacht. Der Reichsminister verfüge über eine scharfe politische Auffassung, über erstaunlichen Sinn für Mäßigung, der durchaus nicht als passive Resignation aufgefasst werden dürfe. Man fühle, daß man es mit einem energischen, erfahrungsreichen, vorsichtigen, gleichzeitig kühnen Manne zu tun habe. Es sei ein Glück für das Reich, daß an der Spitze seiner auswärtigen Angelegenheiten ein Diplomat von solchem Schlage stehe.

Quelle:

Jenaer Volksblatt vom 23.9.1920

In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00273696/JVB_19200923_224_167758667_B1_001.tif?logicalDiv=jportal_jpvolume_00371117

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Heinze#/media/Datei:HeinzeRudolf1920.jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Alexandre_Millerand#/media/Datei:Alexandre_Millerand_(cropped).jpg

https://de.wikipedia.org/wiki/Henri_Le_Rond#/media/Datei:Henri_Le_Rond.jpg