100 Jahre Thüringen
Staatskanzlei Thüringen Weimarer Republik e.V. Forschungsstelle Weimarer Republik an der Uni-Jena

Unsere Jahreschronik vermittelt Erklärungsansätze, warum die freiheitlich-demokratischen Traditionsfarben Schwarz-Rot-Gold von einem Großteil der politischen Öffentlichkeit nicht als Nationalsymbol der Weimarer Republik anerkannt wurden. Der fehlende Gründungs- und Grundwertekonsens von 1919 spaltete das halbherzig umformierte Parteiensystem in mehrfacher Hinsicht, zunächst grundsätzlich in zwei unversöhnliche Lager. Den offen verfassungsfeindlichen Parteien der Extreme stand eine ganze Reihe von potenziellen Regierungsparteien gegenüber, die ein breites Spektrum umfassten, das von der SPD, der DDP über den politischen Katholizismus bis zur DNVP reichte. Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen ihnen bestand in der mehr oder weniger klaren Abgrenzung gegenüber Putschismus, Separatismus und ultralinken Aufstandsszenarien. Die programmatischen Gegensätze in diesem Lager der sog. politischen Mitte formierte jedoch von Anfang an keine prodemokratische Gestaltungseinheit. Daran anknüpfend lautet ein wesentlicher Befund unserer Untersuchung, auf dem Politikfeld der Feierkultur wurde die parlamentarische Demokratie mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Die Verfassungsfeiern der Reichsregierung wurden vom Reichsministerium des Innern stets unter der Prämisse „Überparteilichkeit“ ausgerichtet, was aus den starken Vorbehalten gegen den demokratischen Parteienpluralismus unter seinen leitenden Beamten resultierte. Der überparteiliche Geltungsanspruch diente aber nationalliberalen und nationalistischen Parteikreisen als Argument, um Schwarz-Rot-Gold als die „das Volk“ integrierende Nationalflagge der Deutschen von Anfang an in Frage zu stellen. Anhänger der Republik sahen in Schwarz-Rot-Gold unter Berufung auf die Kämpfe zwischen 1815 und 1848/49 die „Deutschen Farben“ schlechthin, ihre innenpolitischen Gegner hingegen lediglich eine „Parteifahne“ der Sozialdemokratie und ihrer Vorfeldorganisationen, die nicht das Symbol einer „wahren Volksgemeinschaft“ aller Deutschen repräsentieren könne. In dieser emotional hoch aufgeladenen Kontroverse zeigten sich also selbst die Parteigänger der „politischen Mitte“ innerlich zerrissen, weil sie zur parlamentarischen Demokratie im Allgemeinen und zur Repräsentationskultur der Republik im Besonderen von Haus aus gegensätzliche Positionen vertraten, auch wenn diese auf den zentralen Verfassungsfeiern sorgsam kaschiert wurden. Ab 1922 initiierte das Reich auch in den Verwaltungen der Kommunen und Landkreise Verfassungsfeiern, wo sich die Geister in der Bewertung der neuen Reichsfarben noch deutlicher unterschieden.

Angesichts dieser Spaltungslinien konnte sich selbst zwischen solchen Kreisen, die die neue Staatsform grundsätzlich befürworteten, nur ein brüchiger Negativkonsens herausbilden. Dementsprechend befand der radikale Demokrat und scharfzüngige Kritiker der politischen Kultur Weimars, Carl von Ossietzky, 1929, die Verfassungsfeiern seien zwischen 1920 und 1923 aus einem „großen Impuls“ erwachsen. Er bezog sich auf die Jahre, „als Republikaner abgeschossen wurden“, ohne dass viel Mühe darauf verwendet worden sei, die Mordtaten zu sühnen. Zu dieser Zeit habe es demzufolge noch nicht „zum guten Ton“ gehört, sich öffentlich zur Republik zu bekennen. Denn in der Frühphase der Weimarer Republik erblickten keineswegs nur erklärte Feinde des Parlamentarismus im „Parteienhader“ die Ursache für den angeblich durch die Revolution und den Versailler Vertrag ausgelösten Niedergang „des deutschen Vaterlandes“. Darin gefielen sich auch Politiker der MSPD und DDP, aber in erster Linie Vertreter der BVP, DVP, DNVP und des Zentrums. So forderten die Leitartikel in der DVP-nahen „Geraer Zeitung“ anlässlich des Verfassungstages ausgerechnet von den alle parlamentarischen Regierungskoalitionen tragenden Parteien, endlich eine „überparteiliche“ Grundhaltung einzunehmen, um den „Gemeinschaftsgedanken“ und die „Staatsgesinnung“ zu stärken. Dieses antipluralistische Argumentationsmuster prägte in der Weimarer Zeit auch die Denkweise der meisten Kommunalpolitiker, Verwaltungsjuristen, Gymnasiallehrer und Heimatpublizisten. Gerade die städtischen Verfassungsfeiern boten ihnen ein willkommenes Podium, um vor einem das Reich „zersetzenden Parteigeist“ zu warnen, wie es beispielgebend Hugo Kühn auf der Verfassungsfeier der Stadt Weimar 1927 tat. Das in der öffentlichen Meinung weit verbreitete Negativ-Image der Parteien prägte mit wenigen Ausnahmen auch die lokale Verwaltungselite in Thüringen. Wie die langjährigen Oberbürgermeister von Jena und Weimar, Alexander Elsner bzw. Felix Walther Mueller, waren die Spitzenbeamten der Kommunen politisch im konstitutionell-monarchischen Regierungssystem des Kaiserreichs sozialisiert worden (Retterath 2019). Sie verschlossen sich zumeist der Einsicht, dass dem Parteienwesen in der parlamentarischen Demokratie eine neuartige, intermediäre Vermittlerrolle zwischen Politik und Öffentlichkeit zukam. Von den Entscheidungen der Stadträt*innen und kommunalen Behördenleiter vor Ort hing aber maßgeblich die inhaltliche und musikalisch-künstlerische Ausrichtung der Gedenkstunden zum 11. August ab (Ossner 1999).

In den ersten Nachkriegsjahren konnte sich unter diesen Vorzeichen nur in der Kommunalverwaltung Weimars eine republikanische Feiertradition etablieren, zeitversetzt wohl auch in Altenburg, Apolda und Eisenach. In anderen Städten scheiterten diesbezügliche Bemühungen seitens der Stadtvorstände am Widerstreben anderer staatlicher Behördenleiter oder schon an der fehlenden Finanzausstattung durch die jeweiligen Gemeinde- bzw. Stadträte. In ihnen stellten die offenen und versteckten Gegner der Weimarer Republik in der Regel die Mehrheit. Der Geraer Oberbürgermeister bzw. ab 1922 Stadtdirektor und Finanzdezernent Kurt Herrfurth bemühte sich letztlich vergebens, unter Berufung auf die Erlasse der Innenministerien des Reiches und des Landes eine gemeinsame Verfassungsfeier aller ortsansässigen Behörden zu organisieren. Er musste 1924 die Erfahrung machen, dass alle anderen Dienststellen, darunter auch die Geraer Filiale des Reichsfinanzministeriums, „nicht an die Arrangierung einer solchen allgemeinen Behördenfeier herangehen wollten.“ Auf seine Bitte hin, zumindest für eine vom Oberbürgermeisteramt ausgerichtete Feier einen Redner zu stellen, wurde Herrfurth seitens der Behördenvorstände erklärt, „dass die einzelnen Herren doch keine Redner wären.“ Geras Beispiel verdeutlicht, dass die republikanische Feierkultur nicht nur von den Mehrheitsverhältnissen in den Stadtparlamenten maßgeblich beeinflusst wurde. Sie hing auch von der Grundeinstellung der kommunalen Amtsleiter zur Republik ab. Unter ihnen fanden sich neben Oberbürgermeister Herrfurth, dem Geraer Bürgermeister Wilhelm Leven und dem Bürgermeister Erich Kloss in Weimar nur wenige Befürworter von Verfassungsfeiern. Auf ihnen traten parteiengebundene Kommunal- oder Landespolitiker wie August Frölich und August Baudert nur selten als Hauptredner hervor. Baudert unterschrieb zudem den Gründungsaufruf des Republikanischen Reichsbundes vom 6. März 1921, in dem es programmatisch hieß, allen Gegnern des Weimarer Staates müsse eine „geschlossene republikanische Front“ entgegengestellt werden. Die neue Organisation bestimmte unter ihrem ersten Vorsitzenden, dem Thüringer Landespolitiker Carl Freiherr von Brandenstein (SPD), zunächst die Landeshauptstadt zu ihrem Bundessitz. Das Reichsbanner galt in gewisser Hinsicht als Nachfolger des Reichsbundes, der bereits das schwarz-rot-goldene „Freiheitsbanner“ als Symbol führte (Elsbach 2019).   

1924 unternahm die neue Thüringische Staatsregierung zunächst den Versuch, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold in die städtischen Verfassungsfeiern zu integrieren. Von der Stadt Weimar abgesehen, gelang es Innenminister Sattler, das Reichsbanner landesweit von eigenen Veranstaltungen abzuhalten. Erst nach der offenen Brüskierung des Staats- und Verfassungsrechtlers Hugo Preuß (DDP) aus Anlass seiner Rede auf der ersten Verfassungsfeier des Reichsbanners in der Landeshauptstadt besann sich der Bundesvorstand eines Besseren. Nach dem Scheitern seiner Umarmungstaktik ging Sattler dazu über, eigenständige Demonstrationen und Umzüge des Reichsbanners durch Auflagen auf dem Verordnungswege einzuschränken. Mit Blick auf das gesamte Reich schätzt Sebastian Elsbach ein, dass die Kundgebungen und Feste des Reichsbanners von Bürgermeistern, Stadträten und Kommunalpolitikern mehr oder weniger protegiert wurden, ebenso von den Innenministern jener Länder, die von Politikern der Weimarer Koalition regiert wurden. Oftmals seien die Verfassungsfeiern des Reichsbanners als regelrechte Volksfeste inszeniert worden. Die Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold hätten die Festplätze für einen Tag in ein Fahnenmeer verwandelt und die Redner mit kämpferischen Ansprachen versucht, möglichst große Kreise der Bevölkerung unter den Symbolfarben der Republik zu vereinigen bzw. in ihrer demokratischen Grundhaltung zu bestärken. Im Unterschied zur Entwicklung in Baden, Hessen und Preußen traf dies für das Land Thüringen allerdings nur bedingt zu. Amtliche Verfassungsfeiern städtischer Behörden wurden hier überhaupt erst in den Jahren nach dem Auseinanderbrechen der „Ordnungsbund“-Regierung zur Regel. Obwohl das Reichsministerium des Innern regelmäßig zu allgemeinen Behördenfeiern aufrief, blieb letztlich der entscheidende Punkt, dass „eine erfolgreiche Gestaltung von Verfassungsfeiern wesentlich vom Willen der lokalen Entscheidungsträger“ abhing (Rossol 2011).

Zwischen 1927 und 1929/30 erfreuten sich nationalrepublikanische Aufmärsche zum Verfassungstag aber eines wachsenden Zulaufs. Sie wurden von einer ganzen Reihe verfassungstreuer Organisationen getragen, die größte Zahl der Teilnehmenden stellte in der Regel das Reichsbanner. Dem Gau Großthüringen dieses Bundes gehörten zu Beginn des Jahres 1925 über 16.750 Mitglieder an, d. h. unter Einschluss der Gebiete des preußischen Thüringens. Das waren weit weniger als die ultrarechten Wehrverbände auf die Beine bringen konnten. Die unüberhörbare Hauptforderung der Demonstrierenden unter schwarz-rot-goldenen Fahnen blieb indes, den 11. August reichsweit zum arbeitsfreien Nationalfeiertag erklären zu lassen. Neben dieser populären, volksnahen Feier- bzw. Protestkultur verblassten die städtischen Behördenfeiern mehr und mehr. Obwohl sie ab Mitte der 1920er Jahre durchweg ansprechend, wenn auch uniform gestaltet wurden, nahmen diese amtlichen Veranstaltungen den Charakter gewohnheitsmäßiger Routinefeiern mit handverlesenen Gästen an. Auch seitens der Bürger*innen schwand das Interesse, exponierte Linksdemokraten und Vertreter der freien Gewerkschaften blieben nach Ausbruch der großen Wirtschaftskrise ohnehin aus. Demgegenüber beteiligte sich in der Weimarer Innenstadt und ab 1927 besonders auffallend in den Straßen von Apolda, Gera und Jena ein wachsender Teil der Einwohnerschaft an den Verfassungsfeiern. Die beachtliche Mobilisierung in diesen Industriestädten verdankte sich nicht zuletzt dem Mitgliederzulauf des Reichsbanners Ende der 1920er Jahre. Zu den Großkundgebungen aus Anlass seines Gründungsjubiläums 1929 reisten zudem Abordnungen aus anderen Gauen des Deutschen Reiches und des Republikanischen Schutzbundes aus Österreich an. Die Sternfahrt des Deutschen Automobilklubs nach Weimar und das „Verfassungskegeln“ in Gera belegen für 1930, dass die Veranstaltungen zum 11. August mittlerweile auch außerhalb der Reichshauptstadt breite Bevölkerungskreise erreichten. An diesem Tag kreiste sogar ein kleines Sportflugzeug über der Landeshauptstadt, das einen schwarz-rot-goldenen Farbanstrich trug (Stenzel 1998). Inwieweit sich dieser Popularitätsgewinn auf die Landkreise, kleineren Städte und Gemeinden Thüringens auswirkte, lässt sich schwer einschätzen.

Die zentralen Feierstunden im Plenarsaal des Reichstags und die Verfassungsfeiern der Preußischen Staatsregierung fanden stets ein großes Publikum. Von der Reichswehrführung abgesehen, nahmen auch die dem Parlament verantwortlichen Kabinettsmitglieder und hohen Amtsträger wie Reichspräsident Hindenburg alljährlich an diesen offiziellen Veranstaltungen der Reichsregierung teil. Dennoch verspürten wohl die meisten Staatsdiener wenig Interesse, die von ihnen abgelehnte, demokratisch legitimierte Reichsverfassung zu feiern. Das hat sie indes nicht davon abgehalten, auf diese Verfassung den Treueid zu schwören, so wie es die Beamten an der Thüringischen Landesuniversität Jena seit 1922 taten. Ralf Poscher vertrat demzufolge die Auffassung, der 11. August sei als Nationalfeiertag gescheitert (Poscher 1999). Dagegen betonte Nadine Rossol 2008 in ihrer Studie über die repräsentative Mitgestaltung der Weimarer Demokratie von unten, die am Nachmittag des Verfassungstages abgehaltenen zentralen Feiern hätten auf Jugendliche, Sportler*innen und die zahlreichen Gäste der Freiluftspektakel ihre Wirkung nicht verfehlt. Ab 1929 habe es sich um weithin wahrgenommene Großveranstaltungen gehandelt, die zu Ehren der Republik organisiert wurden. In Thüringen, d. h. abseits der Metropole Berlin wie der Großstädte Dresden, Leipzig und Magdeburg, gingen allerdings von den städtischen Verfassungsfeiern schon vor dem Hereinbrechen der Weltwirtschaftskrise ganz andere Signale aus. Hier wurde die amtliche Feierkultur seit etwa 1924/25 von Distanz und tiefer Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus dominiert. Der freiheitliche und soziale Grundwertekatalog des Weimarer Verfassungswerkes spielte ohnehin nur 1922/23 auf den Veranstaltungen in der Landeshauptstadt eine Rolle. Mit wenigen Ausnahmen bestimmten Aufrufe zur „Einigkeit“, „Überparteilichkeit“ und „Volksgemeinschaft“ die Festansprachen, die – wie die populistische Forderung nach einer „am Volkswohl ausgerichteten Politik“ – mit dem pluralistischen Mehrheitsprinzip einer parlamentarischen Demokratie unvereinbar waren (Retterath 2019, 139).

Im Gegensatz zur französischen Nationalkultur wurde im Deutschen Reich eben nicht in einer Revolution der Gründungsimpuls für die republikanische Verfassung gesehen, sondern im Ersten Weltkrieg, der parteienübergreifend als eine heroische Zeit des deutschen Volkes beschrieben wurde. Demzufolge speiste sich die Legitimation der neuen Verfassung in starkem Maße aus Erzählungen bzw. Erinnerungen über „das Gemeinschaftserlebnis“ im Krieg, wenn auch unter grundverschiedenen Akzentsetzungen. Die republikanischen Parteien SPD und DDP leiteten aus dem angeblichen „Volkskrieg“, im Sinne des Kampfes und Leidens des gesamten Volkes, die historische Rechtfertigung für den Aufbau eines „Volksstaates“ ab, der in der WRV seinen verfassungsmäßigen Ausdruck gefunden habe. Diese Minderheitsposition im kollektiven Gedächtnis sah sich mehr und mehr mit den „Ideen von 1914“ konfrontiert, die als eine „überparteiliche“ Integrationsformel propagiert wurden. Die sog. Front- oder Schützengrabengemeinschaft würde nunmehr eine „wahre Volksgemeinschaft“ als Alternative zum Parteienstaat von Weimar bedingen. Die Erwartung einer entsprechenden Revision der Weimarer Verfassung bildete spätestens ab Mitte der 1920er Jahre eine Mehrheitsposition unter den bürgerlichen Regierungsparteien und ventilierte erhebliche Vorbehalte gegen den westeuropäischen Parlamentarismus. Unter diesen Voraussetzungen polarisierten die Veranstaltungen zum 11. August in den untersuchten Vergleichsstädten Thüringens die Feierkultur(en) noch stärker als auf der Reichsebene. Die vom Reichsnationalismus der Kaiserzeit geprägten Kommunaleliten standen den örtlichen Vertretern der nationalrepublikanischen Bewegung äußerst reserviert gegenüber. Infolgedessen konnte auch von unten aus der lokalen Zivilgesellschaft kein Grundvertrauen in die neue Staatsform und deren Nationalfarben erwachsen, das die Gegensätze zwischen den Lagern überbrückte. Ohne Illusionen notierte der Kosmopolit Harry Graf Kessler nach dem Verfassungstag am 14. August 1927 in sein Tagebuch, die Republik stünde vor der Frage, ob sich die Situation wenigstens so stabilisieren ließe, dass die Wiederherstellung der Monarchie nur um den Preis eines Bürgerkrieges möglich sei. Das würde vom weiteren und sich steigernden Engagement des Proletariats und Kleinbürgertums für die Republik abhängen, was wiederum Unterstützung und „positive Leistungen“ des Weimarer Staates für diese Teile des Volkes voraussetze (Zitat: Stenzel 1994, 173).

Im Jahr 1930 wurde der Verfassungstag zum letzten Mal mit großem Pomp begangen. Das vom Reichskunstwart in Berlin aufgeführte Festspiel „Deutschlands Strom“ vermischte wie im Vorjahr Elemente einer demokratisch-partizipativen Massenkultur mit dem Ansprechen nationalistischer Gefühle. Diese Inszenierung reduzierte die verfassungsrechtlichen Grundsätze „Einheit“ und „Freiheit“ auf Schlagworte der Anti-Versailles-Propaganda der Reichsregierung. Redslob vermochte damit keine „spezifisch republikanische Festgestaltung“ hervorzubringen. Außerhalb Berlins und Preußens lösten seine Impulse nicht die erhoffte Resonanz aus, um lagerübergreifend „nationale Identität“ stiften zu können. Er blieb dem Ansatz „Erziehung zur Nation“ verpflichtet, der auf bildungsbürgerlichen Reformkonzepten aus der Jahrhundertwendezeit basierte, mit denen die Konflikte in der Nachkriegsära nicht zu bewältigen waren (Speitkamp 1994, 579). Auch wenn die bürgerlichen Regierungsparteien und gemäßigt nationalistischen Kreise über kein schlüssiges Konzept verfügten, um „Imperialismus“ und „Sozialismus“ ´künftig zu vereinen, wie Cartellieri am 19. Oktober 1924 in seinem Tagebuch notierte, verfing ihre emotionale Ansprache bildungs- und wirtschaftsbürgerlicher Kreise wesentlich stärker. Die Monarchie habe es leichter als die Republik, da sie konkreter und sichtbarer sei. Sie werde durch den Thron dargestellt, repräsentiert durch das Gepräge der Macht. Das wilhelminische Zeitalter habe es verstanden, „sich in Szene zu setzen“, konstatierte der Festredner auf einer Verfassungsfeier in der Arbeiterstadt Wetzlar im Jahre 1931 (Ossner 1999, 177). „Wir haben wieder einen Nationalfeiertag bekommen, von dem die Republik nichts weiß“, bemerkte von Ossietzky dazu bissig in der „Weltbühne“ vom 20. Januar 1931. Tatsächlich war es den offen antidemokratischen Teilkulturen gelungen, neben dem 1. Mai und dem Volkstrauertag vor allem das Gedenken an die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. In der Garnisons- und Universitätsstadt Gießen haben an den Feierstunden zum 18. Januar nachweislich wesentlich mehr Bürger*innen teilgenommen als an den Veranstaltungen zum 11. August. Nach Einschätzung von Winfried Speitkamp entfaltete der Reichsgründungstag zu Beginn der 1930er Jahre reichsweit eine höhere Integrationskraft als der Verfassungstag. Jedenfalls erinnerten an diesem Tag vornehmlich akademisch Gebildete, Beamte und mittelständische Kreise, seltener Arbeiter, das Kaiserreich als einen Machtstaat von Weltgeltung, was einer Demonstration gegen die Republik von Weimar gleichkam. In Thüringen markierte die Reichsgründungsfeier an der Jenaer Landesuniversität am 18. Januar 1931 sogar eine hochschul- und kulturpolitische Zäsur, da Hitlers Elaborat „Mein Kampf“ als vermeintlicher Appell an „die deutsche Jugend“ höchste akademische Weihen erfuhr. Außerdem vermochte das reichsnationalistisch ausgerichtete Lager ab 1928 die alljährlich aus Anlass des 11. August organisierten Schulfeiern durch deutschvölkische Themenkreise regelrecht zu vereinnahmen, die vom Thüringischen Volksbildungsministerium vorgegeben wurden. Das ursprüngliche Anliegen der Schulfeiern trat völlig in den Hintergrund, d. h. die Popularisierung der Bürgerrechte und Vertiefung des Demokratiegedankens unter der Schuljugend.

Ein nach eigener Aussage verfassungstreuer „Leserbrief“-Schreiber berichtete am 12. August 1932 im „Jenaer Volksblatt“ über eine solche Schulfeier. Er berief sich auf die Aussagen eines 12-jährigen Schülers, wonach sein Lehrer zwar nicht die Rückkehr zur Monarchie gefordert, aber versichert habe, in der Vergangenheit sei es dem Reich besser gegangen. Auch am „Erbfeind“ Frankreich habe sich dieser Lehrer wie in alten Zeiten abgearbeitet. Es wird alles wieder, wie´s gewesen ist, fasste der Berichterstatter seinen Eindruck zusammen und schloss mit den Worten: „Vielleicht erleben wir sogar noch einen verlorenen Weltkrieg in zweiter Auflage.“